Update, 24.Juli 2016 -Durch den Amoklauf von München wird dieser Artikel aus dem Jahr 2014 wieder häufig aufgerufen. Manche Leser haben mir vorgeworfen, ich wolle Stimmung gegen Schützenvereine machen. Die Intention dieses Textes war und ist eine andere: zu zeigen, welches Leid solche Verbrechen auf Jahre hinaus bei Opfern und ihren Angehörigen verursachen. Und Ansätze vorzustellen, wie man das Risiko weiterer derartiger Bulttaten minimieren kann.
Vor fünf Jahren erschoss Tim K. bei seinem Amoklauf in Winnenden 15 Menschen. Überlebende und Hinterbliebene leiden bis heute - und viele sind wütend: Gesetze wurden kaum verschärft, Kontrollen von Waffenbesitzern sind oft lax. Ein Ortsbesuch. Von Claus Hecking für Spiegel Online, 4. September 2014
Winnenden - Wenn Carolin Schneider den Gedenkraum der Albertville-Realschule in Winnenden besucht, versucht die 21-jährige Bankkauffrau, sich nicht übermannen zu lassen von ihren Gefühlen. Den Erinnerungen an den Moment, als sie hier im früheren Klassenzimmer der 10d auf dem Boden kauerte: in Todesangst, an Steffi gepresst, ihre beste Freundin. Während der Junge im Türrahmen mit seiner Großkaliberpistole feuerte und feuerte und feuerte.
„11.03.2009, 9.33 Uhr -„, steht an der Stirnwand, wo einst die Tafel hing, Einschusslöcher sind keine mehr zu sehen. Davor sind 15 weiße kleine Pulte in Dreierreihen aufgebaut. Auf jedem steht eine Kerze, klebt Foto und Name eines der 15 Menschen, deren Leben der Amokläufer Tim K. ausgelöscht hat. In Reihe zwei links sitzt ein gelblicher Teddy auf dem Pult. Steffis Teddy.
Es ist 9.33 Uhr, als die Tür von Raum 301 aufgerissen wird. Als der 17-jährige Tim K. wortlos mit der halbautomatischen Beretta 92 seines Vaters, eines Sportschützen, auf die Schüler schießt, die mit dem Rücken zu ihm sitzen. Als Carolin und Steffi, die kurz zuvor aus Laune die Plätze getauscht haben, sich zu Boden werfen, unter dem Tisch in Löffelchen-Stellung zusammenkauern, während die Projektile überall einschlagen. Als der Täter endlich verschwunden ist und Carolin realisiert: Sie lebt. Steffi ist tot. Ihr Körper hat die Kugeln abgefangen.
Carolin Schneider
Acht Schülerinnen und einen Schüler sowie zwei Referendarinnen und eine Lehrerin erschießt der Amokläufer in seiner früheren Schule in der schwäbischen 28.000-Einwohner-Stadt, 14 verletzt er, einige schwer. Dann flüchtet er vor der eintreffenden Polizei, tötet einen Klinikmitarbeiter, nimmt einen Autofahrer zur Geisel, während die ersten Berichte über das Massaker Deutschland schockieren. Dutzende Kilometer lässt er sich über die Autobahn fahren, bis die Geisel nahe der Stadt Wendlingen entkommt. Tim K. zieht zu Fuß durch das Industriegebiet, erschießt in einem Autohaus einen Kunden und einen Verkäufer, liefert sich Schussgefechte mit Polizisten, wird verletzt. Um etwa 12.30 Uhr richtet er die Beretta gegen seinen Kopf und drückt ab.
„Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke“, sagt Carolin Schneider. „Aber es darf auch nicht mein ganzes Leben bestimmen.“ Anfangs hat sie sich oft gefragt, warum Steffi sterben musste und sie überlebt hat. Warum sie die Plätze getauscht haben. Warum Tim K. gemordet hat. Ob sie je wieder fröhlich sein darf - sie, die immer so viel gelacht hat. Sie hat unter Albträumen gelitten und unter dubiosen Lähmungserscheinungen. Die Psyche, meinten die Ärzte.
„Die Waffenlobby hat noch sehr viel Macht“
Jedes Jahr, wenn der 11. März näher rückt, treten einige Symptome wieder auf. „Aber jetzt kontrolliere ich das“, sagt sie. Und Lachen erlaubt sie sich auch: laut und oft. „Die Opfer hätten gewollt, dass unser Leben irgendwann wieder normal weiter geht.“ Manche Überlebende kriegen das bis heute kaum hin: Eine junge Frau sei noch so traumatisiert, dass sie keine Schule besuchen kann, heißt es. Eine andere hat gerade ihren Realschulabschluss geschafft - nach fünf Jahren Kampf gegen die Angstzustände.
Carolin hat es geholfen, sich zu engagieren, beim „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden - Stiftung gegen Gewalt an Schulen“. Eltern der toten Kinder haben die gemeinnützige Organisation gegründet. Man wolle nach vorne denken, die Energie kanalisieren, Positives tun, sagt Vorstand Hardy Schober, der selbst seine Tochter Jana verloren hat.
Er und seine Leute ziehen durch die Schulen, klären Jugendliche über Mobbing und Gewalt auf, haben sogar ein Theaterstück initiiert. Und sie kämpfen politisch: für ein Verbot großkalibriger Pistolen, gegen die Lagerung bestimmter Waffen in Privathaushalten, für mehr unangemeldete Kontrollen bei Sportschützen und Waffenbesitzern zu Hause. Damit ein Verbrechen wie am 11. März 2009 nie wieder vorkommt. So haben es ja auch Politiker einst gelobt.
„Wir wollen uns sicher sein“, erklärte 2010 der damalige Bundespräsident Horst Köhler, „dass wir alles, wirklich alles Menschenmögliche tun, um diese Gefahr so gering wie möglich zu halten.“ Vier Jahre und zwei Staatsoberhäupter später sind diese großen Worte bestenfalls ansatzweise in die Tat umgesetzt worden.
Das neue Waffenrecht, das der Bundestag 2009 kurz vor der Sommerpause beschloss, sieht nur kosmetische Änderungen vor. Noch immer dürfen Mitglieder von Schützenvereinen Großkaliberpistolen besitzen. Nur die Altersgrenze für die Benutzung wurde von 14 auf 18 Jahre angehoben. „Die Waffenlobby hat noch sehr viel Macht“, sagt Schober. Noch immer dürfen Schützen die tödlichen „Sportgeräte“ zu Hause lagern, solange sie diese gegen den Zugriff von außen sichern - anders als Tim K.s Vater, der die Beretta im Schlafzimmerschrank ließ. Immerhin können die Behörden seit 2009 leichter und unangemeldet kontrollieren, ob die gemeldeten 1,5 Millionen Waffenbesitzer in Deutschland ihre 5,5 Millionen legalen Waffen vorschriftsgemäß aufbewahren. Theoretisch.
„Den Waffenbehörden fehlt häufig das qualifizierte Personal“
Wie lax es in der Praxis läuft, zeigt ein neuer Dokumentarfilm des SWR. Autor Claus Hanischdörfer fand heraus, dass etwa im Rhein-Neckar-Kreis rund um Heidelberg, wo vergangenes Jahr ein Sportschütze zwei Menschen tötete, seit 2009 erst 20 Prozent aller Waffenbesitzer kontrolliert worden sind, ob sie ihre Schießeisen vorschriftsgemäß aufbewahren. Im Baden-Württemberger Durchschnitt sind es 45 Prozent. „Den Waffenbehörden steht häufig das für die Kontrollen nötige qualifizierte Personal nicht zur Verfügung“, zitierte die „Südwest-Presse“ einen Vertreter des Innenministeriums. Man wolle bis Ende 2014 Vorschläge erarbeiten, „wie die Kontrolldichte erhöht werden kann“.
Finden überhaupt mal Überprüfungen statt, so melden sich die Behördenvertreter oft Wochen vorher an, um nicht vor verschlossener Tür zu stehen. Damit werde die Kontrolle sinnlos, kritisiert Schober: „Das ist ein Placebo-Gesetz. Die Politiker haben die Bevölkerung beruhigt, aber den Behörden stellen sie kaum zusätzliches Geld zu Verfügung.“ Immerhin sind Baden-Württembergs Schulen sicherer geworden. Viele haben neue Alarmsysteme erhalten. Die für sechs Millionen Euro umgebaute Albertville-Realschule ist ein Musterbeispiel: Klassenzimmer lassen sich von außen nur mit Transponder-Chips öffnen; innen haben die Türen einen Panik-Knopf. Alle Räume haben einen Notfallschalter - mit direkter Verbindung zu Polizei. Viele Flure und der Eingangsbereich sind jetzt verglast.
Im Hochbeet des Schulhofs sind 15 Namen auf Gedenksteinen eingraviert. Der von Tim K. fehlt. Die Familie ist weggezogen und lebt unter einer anderen Identität. Der Vater Jörg K. hat wegen fahrlässiger Tötung ein Jahr und sechs Monate auf Bewährung bekommen. Bei den Angehörigen hat er sich persönlich noch immer nicht entschuldigt. Seine Haftpflicht-Versicherung hat zwei Millionen Euro gezahlt an die Verletzten und Hinterbliebenen. Die Stadt hat Jörg K. kürzlich auf 9,4 Millionen Euro Schadenersatz verklagt, er selbst die psychiatrische Klinik, in der sein Sohn in Behandlung war. Die Prozesse wollen nicht enden.
Carolins Freundin Steffi und Jana Schober haben ihre letzte Ruhe auf einem Friedhof bei Winnenden gefunden, Seit an Seit mit zwei weiteren getöteten Mädchen. Auf Steffis Grab liegt ein ausgeblichenes Foto von vier Teenies: ganz rechts strahlt die junge Carolin in die Kamera, ganz links Steffi. Gerade hätte sie ihren 22. Geburtstag gehabt, Herzen, Bilder, Blumen übersäen das Grab.
Tim K.s Asche lagert seinen Eltern zufolge mehrere Autostunden weit weg: in einem Waldfriedhof, abseits von den übrigen Toten. Das Urnengrab sei zugewuchert von Unkraut, obendrauf stehe nur eine Nummer. Sie haben ihn anonym bestattet, aus Angst vor Grabschändern. Vielleicht, hat Jörg K. der „Welt am Sonntag“ gesagt, werde er es irgendwann schaffen, den Namen doch noch an das Grab zu schreiben.