Saudi-Arabien: Ein kranker König, Millionen Angry Young Men


Mit den Erdöl-Einnahmen stabilisierte der verstorbene saudische König Abdullah sein Land. Die Gesellschaft ist gespalten. Und Abdullahs angeschlagener Nachfolger Salman muss mit weniger Geld auskommen, beim Versuch, Misstände zu kitten. Von Claus Hecking für ZEIT ONLINE

In seiner ersten Fernsehrede wirkt Saudi-Arabiens neuer König nicht wie ein Schwerkranker. „Jeder Mensch auf der Erde wird sterben, aber das Gesicht unseres Herrn wird bleiben“, liest der fast 80-jährige Salman vom Blatt ab: langsam, aber ohne Aussetzer. Von Demenz, Parkinson, einem gelähmten Arm oder all den Krankheiten, an denen er leiden soll, ist in der Aufzeichnung nichts zu erkennen. Nur die ständigen Umschnitte zwischen verschiedenen Kameraeinstellungen könnten darauf hindeuten, dass Salman diese Rede womöglich nicht am Stück gehalten hat.

„Er kann ein paar Minuten gut funktionieren, aber dann gerät er durcheinander“, sagt Simon Henderson. Er ist Saudi-Arabien-Kenner am Washington Institute for Near East Policy und einer der wenigen Westler, der tiefere Einblicke in das Herrscherhaus der verschlossenen absolutistischen Monarchie hat.

Vor rund einem Jahr soll König Salman bin Abdulaziz al Saud, Halbbruder des heute Nacht verstorbenen Abdullah, einen Schlaganfall erlitten haben. Das Herrscherhaus dementiert alle Spekulationen über eine geistige Behinderung. Aber allein Salmans Alter lässt vermuten, dass er nur ein Übergangsmann ist. Gerade jetzt bräuchte die Nation einen gesunden, durchsetzungsfähigen, starken Herrscher – steckt das streng islamische Land doch in einem tiefen Umbruch. Saudi-Arabien mag die größten konventionellen Erdölreserven der Welt besitzen. Aber es ist gespalten: in Arm und Reich, Jung und Alt, Mann und Frau, Einheimische und Gastarbeiter. Und nun, da der Ölpreis so rapide fällt, könnte dem Staat das Geld ausgehen, um die Risse zu kitten.

Armut in der Ölmonarchie

Wer Städte wie Riad oder Dschidda besucht, dem fällt sofort auf, wie arm der mit Abstand größte Ölproduzent der OPEC erscheint. Viertel stehen voller Bauruinen und eingestürzter Häuser. Auf den Straßen lungern junge Männer mit grünen Mappen unterm Arm herum – dem Signal: Ich bin auf Jobsuche. Fast ein Drittel der jungen Saudis sind arbeitslos, schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF). Und zwei Drittel der einheimischen Bevölkerung sind höchstens 30 Jahre alt.

So kommen jedes Jahr Hunderttausende neu auf den Arbeitsmarkt, oft ohne große Jobchancen. Einfache, schlecht bezahlte Tätigkeiten etwa im Bau oder als Taxifahrer erledigen meist die Gastarbeiter aus Pakistan, Ägypten oder Bangladesch. Sie machen mit zehn Millionen Menschen rund ein Drittel aller Einwohner aus – und sorgen nebenbei für einen dramatischen Männerüberschuss. In der Privatwirtschaft sind gerade mal 10,9 Prozent aller Mitarbeiter Saudis, steht in amtlichen Statistiken aus dem Jahr 2011; neuere Zahlen liegen nicht vor.

Besser bezahlte Jobs gibt es nicht genug – zumal die Wirtschaft noch immer ziemlich einseitig auf Erdöl und die von diesem Rohstoff abhängigen Branchen wie Petrochemie ausgerichtet ist. Die Regierung baut nun vier Retorten-Industriestädte auf, unter anderem die King Abdullah Economic City, die dereinst mehr als eine Million Einwohner haben soll. Ob die Hunderte Milliarden Dollar teuren Ansiedlungen, die teils aus dem Wüstenboden gestampft werden, ein Erfolg werden, weiß niemand.

Diejenigen Saudis, die eine Stelle finden, heuern fast immer bei Staatsunternehmen an. Die Regierung hat über Jahrzehnte hinweg einen gewaltigen Beamtenapparat aufgebaut: auch, um unzufriedenen Bürgern eine Perspektive zu geben und das Land innenpolitisch zu stabilisieren. Doch in Zeiten des Ölpreisrutsches sind auch die verhätschelten Staatsdiener offenbar nicht mehr unantastbar: Das Finanzministerium hat Ende Dezember für 2015 eine Budgetlücke von knapp 39 Milliarden Dollar vorausgesagt und angedeutet, die Bezüge der Beamten möglicherweise angehen zu wollen. Da lag der Ölpreis noch bei 60 US-Dollar je Fass. Jetzt sind es nicht einmal 50 Dollar. Für einen ausgeglichenen Staatshaushalt braucht Saudi-Arabien mehr als das Doppelte – auch, weil es mittlerweile nicht nur gemeinsam mit den USA und Russland einer der drei weltgrößten Erdölproduzenten ist, sondern auch schon der sechstgrößte Ölverbraucher der Erde.

Von einer Staatspleite ist das Land trotz aller Budgetlöcher weit entfernt. Noch immer hortet die Zentralbank Devisenreserven im Wert von umgerechnet rund 180 Milliarden Euro. Weitere etwa 100 Milliarden liegen auf Sonderkonten für den Aufbau der Infrastruktur, und das Vermögen des geheimnisvollen Staatsfonds Sama wird auf mehr als 600 Milliarden geschätzt.

Allerdings hapert es bei der Umverteilung. Von den Einnahmen des Staatskonzerns Saudi-Aramco kommt ein beachtlicher Teil mutmaßlich der mehrere Tausend Mitglieder starken Herrscherfamilie zugute. Laut einem Bericht des Guardian leben zwischen zwei und vier Millionen Saudis unter der Armutsgrenze von 530 US-Dollar pro Monat. Gerade junge Männer können es sich kaum leisten, zu heiraten, eine Familie zu gründen. Und Kontakte zum anderen Geschlecht außerhalb der Ehe sind im wahhabitischen Königreich tabu.

An Angry Young Men fehlt es daher nicht. 15 der 19 Attentäter des 11. September waren saudische Staatsbürger. Immer wieder kam es nach der Jahrtausendwende auch innerhalb des Landes zu Terroranschlägen: zuletzt 2014, als bei einer Attacke auf einen Grenzposten am Übergang zum Jemen sechs Menschen starben. Dennoch hat sich Saudi-Arabien in den vergangenen Jahren stabilisiert – auch weil König Abdullah als Versöhner galt und mit den Ölmilliarden manche sozialen Missstände behob. Ob dies dem gesundheitlich angeschlagenen Salman mit viel weniger Petrogeld ebenso gut gelingt, ist die große Frage. Und auch vom nächsten in der Reihe sollte man sich nicht zu viel versprechen: Salmans Thronfolger Muqrin ist auch schon 69 Jahre alt.

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