Der Fastenmonat Ramadan fällt dieses Jahr in den Hochsommer. Vier Wochen lang dürfen Muslime von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang nichts essen und trinken. Wie soll das nördlich des Polarkreises gehen, wo es gar nicht Nacht wird? Von Claus Hecking für SPIEGEL ONLINE, 28.06.2014.
Kommenden Sonntag haben die Muslime von Oulu genau 41 Minuten Zeit zum Essen. Frühstück, Mittag, Abend - alle Mahlzeiten des Tages müssen sie zwischen 0.19 Uhr und 1 Uhr nachts erledigen. Und dazu müssen sie in diesen 41 Minuten auch noch Gebete verrichten: zum Sonnenuntergang und zur Morgendämmerung. So verlangt es der Koran.
An diesem Wochenende beginnt für rund 1,6 Milliarden Muslime der Ramadan, der heilige Fastenmonat des Islam. Er fällt in diesem Jahr in den Hochsommer der Nordhalbkugel. Und wird damit zum Stresstest für die Gläubigen: in der Gluthitze der arabischen Welt wie auch in Oulu, Nordfinnland.
„Und esset und trinkt, bis der weiße Faden von dem schwarzen Faden der Morgendämmerung für euch erkennbar wird“, befiehlt Allah im Heiligen Buch. „Danach vollendet das Fasten bis zur Nacht.“ Nur wird es Ende Juni in Oulu am 65. Breitengrad kaum einmal Nacht. Hier oben ist es hell, über 23 Stunden pro Tag. Und noch weiter nördlich in Lappland geht die Sonne wochenlang gar nicht mehr unter.
Wie soll ein guter Muslim da seine Pflicht vor Allah erfüllen?
Islamgelehrte sind uneins
Dieser Ramadan ist ein Dilemma für Hunderttausende Gläubige in der nördlichen Hemisphäre - selbst wenn Kinder, Kranke, Reisende, schwangere oder stillende Frauen vom Saum, dem rituellen Fasten, ausgenommen sind. In Hamburg etwa dauert die Nacht zurzeit nicht mal fünf Stunden. Das bedeutet 19 Stunden ohne Essen und Trinken.
„Wir haben mehr als zehn Jahre lang über dieses Problem nachgedacht“, sagt Abdul Mannan, der als Imam von Oulu und Präsident der Islamischen Gesellschaft von Nordfinnland etwa 1500 nahe oder nördlich des Polarkreises lebende Muslime vertritt. „Viele Gläubige haben uns immer wieder darauf angesprochen; es war ja so abzusehen.“ Schließlich richtet sich der Ramadan nach dem islamischen Mondkalender. Und der ist nur 354 oder 355 Tage lang. Will heißen: der Fastenmonat wandert durchs Kalenderjahr, beginnt jedes Jahr zehn bis zwölf Tage früher. 2015 werden die Ramadan-Nächte in Finnland noch kürzer sein als diesmal.
Der gebürtige Bangladescher Mannan und seine Mitstreiter haben lange nach einer Lösung gesucht. Sie haben den Koran durchgewälzt. Haben andere religiöse Schriften studiert und den Mondverlauf. Und schließlich den Großmufti von Helsinki um Rat gebeten. Der lud bedeutende Islamgelehrte aus Ägypten sowie Saudi-Arabien in den hohen Norden ein. Am Ende erhielten Finnlands Muslime zwei völlig unterschiedliche Fatwas, also Rechtsauskünfte.
Allah vergelt´s
Die eher liberalen ägyptischen Theologen sagen: dauern die Tage länger als 18 Stunden, dürfen sich die Gläubigen im Ramadan nach den Zeiten der Heiligen Städte Mekka oder Medina richten. Dort bricht die Nacht um etwa 19 Uhr an und das Morgengrauen um kurz nach 4 Uhr. Die orthodoxen Saudi-Araber hingegen urteilen: So lange es Sonnenauf- und Sonnenuntergang gibt, müssen diese Zeiten streng eingehalten werden. Alles andere verstoße gegen das Fastengebot, heißt es in ihrer Fatwa. Jene Tage könnten aber später nachgeholt werden. Davon allerdings hält Imam Mannan gar nichts: „Wir können den Ramadan nicht verpassen. Wenn man in diesen Nächten fastet und Gutes tut, bringt das den vielfachen Segen.“
Also richten sich der Imam und die meisten nordfinnischen Muslime nach der Auffassung der Ägypter. Einige folgen aber auch der saudi-arabischen Fatwa. Im Wissen, dass es diesmal 23 Stunden am Stück ohne Essen, Trinken, Sex und Rauchen bedeutet, einen Monat lang. Und im festen Glauben, dass Allah es ihnen vergelten wird.
Auch im Nachbarland Schweden finden die Religionsgelehrten keinen Konsens. „Unterschiedliche Imame haben unterschiedliche Meinungen“, sagt Omar Mustafa, Präsident der Islamischen Vereinigung in Schweden. Seine Organisation meint: Zumindest alle Muslime, die außerhalb der arktischen Zone leben, müssen sich nach dem örtlichen Sonnenstand richten. Andere islamische Institutionen im Land sehen dies pragmatischer.
Und so fasten nun viele der etwa 500.000 schwedischen Muslime nach Mekka-Zeitplan oder nach den Gebetszeiten ihres alten Herkunftsstaats, je nachdem, ob sie in der Stadt Kiruna nördlich des Polarkreises leben oder in Stockholm, wo die Nacht zurzeit immerhin etwa vier Stunden dauert.
Ohne Wasser bei 45 Grad
Ihre Glaubensbrüder im Orient haben ein ganz anderes Problem mit Ramadan im Hochsommer: Sie müssen rund 15 Stunden lang auf Wasser verzichten, trotz quälender Hitze. In Kairo etwa soll es am Samstag bis zu 40 Grad im Schatten heiß werden, und in Bagdad gar 45 Grad. Das öffentliche Leben kommt tagsüber vielerorts fast zum Erliegen. In Abu Dhabi etwa müssen Beamte während des Ramadan nur fünf Stunden pro Tag arbeiten. Saudi-Arabien und andere Golfstaaten haben Bauunternehmer verpflichtet, ihren Tausenden Gastarbeitern aus den armen Staaten Südasiens Mittagspausen zu gewähren.
Das aber schafft neuen Ärger. Denn im Gegenzug darf vielerorts an den Baustellen während der Fastennächte länger gearbeitet werden: zum Leidwesen der Anwohner. Die brauchen nämlich ihren Schlaf. Ganz besonders im Ramadan.