Als die Steuerpraktiken in seiner Heimat Luxemburg aufflogen, schlug der Brüsseler Kommissionschef einen Informationsaustausch zwischen den EU-Mitgliedsländern vor. Doch den gibt es bereits - seit 1977. Von Claus Hecking für ZEIT ONLINE
Als es heikel für ihn wird, startet Jean-Claude Juncker die Flucht nach vorne. 12. November 2014: der neue EU-Kommissionschef tritt vor die Presse, vor das Europäische Parlament. Er kündigt an, die EU-Kommission werde „einen automatischen Informationsaustausch für Tax Rulings“ vorschlagen. Künftig sollten also alle 28 Mitgliedsländer einander informieren, sobald sie derartige Sonderregeln für Unternehmen beschließen wollten – und so die Steuerflucht erschweren. Seine Rede kommt an in Straßburg: viele Abgeordnete applaudierten dem Präsidenten der Brüsseler Behörde.
Anlass der Offensive sind die Enthüllungen über ominöse Steuerabsprachen zwischen Luxemburgs Fiskalbehörden und internationalen Großkonzernen während Junckers Amtszeit als Premierminister. Tagelang hat der Luxemburger zu den Berichten darüber geschwiegen, dass die Unternehmen Milliardengewinne in die Steueroase an der Mosel verschoben hatten. Doch dann werden erste Rücktrittsforderungen laut. Und Juncker verkündet die frohe Botschaft. Er habe den zuständigen Kommissar Pierre Moscovici bereits gebeten, eine entsprechende Richtlinie zu erarbeiten, sagt der Kommissionspräsident am 12. November. Nun hoffe er, „dass die 28 Mitgliedstaaten diesen Ehrgeiz teilen“ – müssen doch die Länder den geplanten Informationsaustausch gutheißen und umsetzen.
Bislang scheint der Ehrgeiz in Europas Hauptstädten nicht besonders ausgeprägt zu sein. Wie der Finanzexperte der deutschen Grünen-Europaparlamentarier, Sven Giegold, nun herausgefunden hat, gibt es bereits seit 37 Jahren eine Norm, die den transnationalen Informationsaustausch zwischen den Fiskalbehörden in Steuerfragen vorsieht. Konkret: den Beschluss des Rates der Mitgliedstaaten vom 19. Dezember 1977.
In Artikel 4 der Richtlinie 77/799/EEC heißt es unter der Überschrift „spontaner Informationsaustausch“: „Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaates soll ohne vorherige Anforderung die Informationen zur zuständigen Behörde jedes anderen Mitgliedstaates unter folgenden Bedingungen übermitteln: (a) die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats hat Gründe, anzunehmen, dass es einen Verlust von Steuer im anderen Mitgliedstaat geben könnte.“ Gleiches gelte auch, wenn anzunehmen sei, „dass eine Steuerersparnis aus künstlichem Transfer von Gewinnen innerhalb von Gruppen von Firmen resultiert“.
Rechtliche Möglichkeiten bisher nicht ausgeschöpft
Eben diese Verschiebung von Milliardenprofiten in Niedrigsteuerländer wie Luxemburg, die Niederlande oder Irland wird den Konzernen immer wieder vorgeworfen. Für diese Staaten war das allerdings bislang kein Anlass, ihre Tax Rulings den betroffenen EU-Nachbarn anzuzeigen.
„Diese Vorgänge beweisen, dass Europas Spitzenpolitiker diese Steuervermeidungspraktiken toleriert haben“, sagt Giegold. „Weder die EU-Kommission noch die Mitgliedsländer haben die rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, die ihnen zur Verfügung stehen.“ Dass die Brüsseler Behörde und die Regierungen den alten Beschluss aus den siebziger Jahren schlicht vergessen haben, ist ausgeschlossen: Der Rat der Mitgliedstaaten beschloss am 15. Februar 2011 eine Richtlinie mit fast demselben Wortlaut (2011/16/EU). Und die EU-Kommission thematisierte 2012 in einer Arbeitsgruppe mit Vertretern sämtlicher Staaten den spontanen Informationsaustausch.
Auf Anfrage von ZEIT ONLINE sagte eine Sprecherin Junckers: „Der Kampf gegen Steuervermeidung und Steuerbetrug hat für Präsident Juncker oberste Priorität. Die Kommission wird bis Frühling ihren Vorschlag vorlegen.“ Dieser Entwurf sehe „einen zwingenden automatischen Informationsaustausch“ bei „grenzüberschreitenden Tax Rulings“ vor. Die bisherigen Regeln hingegen überlassen es den nationalen Behörden, selbst zu entscheiden, wann sie solche Informationen mit dem Fiskus anderer Staaten teilen. Damit Junckers Vorschlag durchkommt, müssten ihm allerdings alle 28 Mitgliedsländer zustimmen – und sich so ihres eigenen Ermessensspielraums berauben.
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