Aberdeen ist das Zentrum von Europas Erdölindustrie. Die liegt am Boden. Der drastisch gesunkene Preis für den Rohstoff stürzt ganz Schottland in die Krise. Von Claus Hecking für DIE ZEIT
Aberdeen - So ausgestorben hat Jake Molloy den Hafen von Europas selbst erklärter Erdöl-Hauptstadt seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. »Die liegen hier schon tagelang, das kostet die Reeder eine Menge Geld«, sagt der Schottland-Chef der Ölarbeitergewerkschaft RMT und deutet auf die fünf Versorgungsschiffe vor ihm. Nebeneinander ankern sie am Upper Dock der »Oil Capital of Europe«, wie sich Aberdeen tituliert. Jeder der Stahlkästen ist fast so lang wie ein Fußballfeld. Alle sind gepanzert gegen die meterhohen Nordseewellen. Diesel, Bohrschlamm, Ersatzteile, Lebensmittel sollten die Schiffe den Erdölförderplattformen vor der Küste bringen. Doch sie laufen nicht aus.
Möwen balgen sich um Sandwichreste auf dem menschenleeren Kai. Nichts rührt sich auf der Highland Endurance, der Indomitable, der World Diamond, der Pisces. Nur auf der Olympic Hercules lassen Männer in neongelben Warnwesten eine Brücke herab: für einen Lieferwagen, der durch den Nieselregen heranzockelt. »Hier war es immer hektisch, die Schiffe mussten schnell wieder raus zu den Plattformen«, erzählt Molloy: »Was wir gerade sehen, macht mir Angst.«
Der Mittfünfziger mit dem Bürstenhaarschnitt kennt die Anzeichen des Niedergangs. 17 Jahre lang war er selbst offshore, auf hoher See. Er hat mitgeholfen, Brent anzuzapfen: Großbritanniens berühmtestes Feld und Namensgeber der wichtigsten Erdölsorte an den globalen Terminbörsen. Er hat Hagelstürme mit Körnern so groß wie Golfbälle überstanden, Monsterwellen und manche ups and downs des Ölmarktes. Einmal ist er entlassen worden: 1986, als der Brent-Preis von 30 auf unter 10 US-Dollar je Fass (159 Liter) rutschte, als zwei von fünf Offshore-Arbeitern ihren Job verloren, als Tausende Aberdeen verließen. Was sich gerade in der Branche abspiele, erinnere ihn an 1986, sagt Molloy. »Und wie damals wird jetzt die Basis für den nächsten Preisboom gelegt.«
Big Oil rüstet ab. Gut 2000 Stellen haben Multis wie BP, ConocoPhillips, Talisman Sinopec sowie die Hunderte kleineren Firmen um Aberdeen zuletzt schon gestrichen: geschockt vom Kurseinbruch des Rohstoffs von 110 auf zeitweise unter 50 Dollar je Fass. Ökonomen sehen dieses Jahr bis zu 35 000 der rund 225 000 Arbeitsplätze in Schottlands Ölindustrie auf der Kippe. Arbeiter verraten unter der Hand, einige kleinere Plattformbetreiber hätten die Produktion bereits eingestellt. Und wie in Schottland sparen Konzerne in der ganzen Welt und legen Projekte auf Eis: von der Arktis über Mexiko bis zu den Falklandinseln. Allein die »großen fünf« (ExxonMobil, BP, Shell, Chevron und Total) haben ihre Investitionsbudgets um 46 Milliarden Dollar gegenüber 2013 gekürzt. Bald dürfte sich das auf dem globalen Markt bemerkbar machen. Aberdeen spürt es schon heute.
Die schottische Ölindustrie: Von der Melkkuh zum Sanierungsfall
Das Messezentrum, ein nasskalter Montagmorgen. Schottlands Regierungschefin checkt noch mal ihr Manuskript, dann schreitet die zierliche blonde Mittvierzigerin ans Rednerpult. Nicola Sturgeon muss Aberdeens ersten Ölkrisengipfel eröffnen. Alle sind gekommen: Industriebosse, Ökonomen, ihre politischen Widersacher. »Schottlands Öl- und Gasindustrie ist eine Erfolgsstory«, ruft Sturgeon in den Saal. Sie und ihre Scottish National Party sind unter Druck. »It’s Scotland’s oil« lautete ihr alter Separatisten-Slogan. Petro-Pounds aus Steuern und Lizenzen sollten die Unabhängigkeit finanzieren. Doch hätten die Bürger nicht im Herbst gegen die Abspaltung von London votiert, hätte Schottland nun ein Milliardenloch im Haushalt. Weil die Ölindustrie von der Melkkuh gerade zum Sanierungsfall wird: Jedes dritte Nordseefeld mache Verluste bei einem Kurs von 50 Dollar je Fass, verbreitet der Branchenverband Oil & Gas UK. Einige Firmen seien »kurz vor dem Kollaps«.
Die Industrie könne den Crash verkraften, hofft Sturgeon. Sobald der Preis anziehe, werde sie wieder Profite schreiben und Arbeitsplätze schaffen. Jetzt aber müsse der britische Staat die Branche aufpäppeln. »Es werden Steuererleichterungen und Investitionsanreize gebraucht, sie müssen drastisch sein und bald kommen«, sagt die Ministerpräsidentin nach der Rede gegenüber der ZEIT. Groß ist die Furcht, dass die Konzerne sonst für immer abziehen aus einem der teuersten Ölreviere der Welt. Dann könne »Aberdeen in zehn Jahren eine Geisterstadt sein«, warnt Colin Welsh, CEO der US-Investmentbank Simmons Company.
Jenny Laing bangt um ihr Aberdeen. »Als der Preisverfall im Sommer anfing, dachten alle, das seien normale Schwankungen. Wir konnten nicht fassen, dass es weiter und weiter nach unten ging«, sagt die Gemeinderatsvorsitzende und mächtigste Lokalpolitikerin. »Wir haben keine Kontrolle über diesen Markt. Aber wir können der Industrie optimale Bedingungen vor Ort schaffen.« Eben darum hat die Stadtmutter den Krisengipfel einberufen. Rund 145 000 der 480 000 Bewohner Aberdeens und der umliegenden Grafschaft Aberdeenshire arbeiten in der Ölwirtschaft oder bei Zulieferern. »Hier gibt es kaum noch eine Familie, die niemanden in der Branche hat«, sagt sie. Ihr Sohn hat gerade seine Offshore-Ausbildung abgeschlossen.
Demnächst wird Jenny Laing fünfzig. In ihrer Kindheit war Aberdeen ein bescheidener Fischerort. Dann »hat die Energieindustrie übernommen«, erzählt die Labour-Politikerin. In der Ölkrise 1973 ging es richtig los: Als die Araber ihre Exporte drosselten und sich der Brennstoff drastisch verteuerte, packten es Esso und Co. an in der Nordsee. Eine Bohrinsel nach der nächsten installierten sie vor Schottland und den Shetlandinseln. Aberdeen wurde ihre Operationsbasis zu Land, Großbritannien Westeuropas zweitgrößte Ölmacht – und autark. Wer heute am Flughafen landet, erblickt am Gepäckband Plattformen, Pipelines und dreckverschmierte Overallträger auf Werbeplakaten. Der Heliport gleich nebenan ist der größte Hubschrauberflugplatz Europas. Wenn die Geschäfte gut laufen, rattern sie hier im Minutentakt los, befördern Arbeiter und Ingenieure hinaus zu den mehr als 400 Plattformen.
Eine Dekade lang, von 2004 bis 2014, hat der Ölmarkt haussiert. Die fetten Jahre sind Aberdeen noch anzusehen. Blumenmeere schmücken Parks, Gärten, Kreisverkehre. Boutiquen reihen sich auf der Einkaufsmeile aneinander. Im Soul Casino, einer entweihten Kirche, zocken und feiern neureiche Aberdonians. 2012 hat ihre Stadt London den Rang abgelaufen als Großbritanniens Metropole mit der höchsten Millionärsdichte. 64 000 Pfund (86 000 Euro) pro Jahr hat ein Beschäftigter in Schottlands Ölindustrie zuletzt im Schnitt verdient: Der britische Mittelwert beträgt 27 000 Pfund.
Erdöl hat Aberdeen reich gemacht. Aber auch abhängig. »Früher hatten wir Werften, Papierfabriken, Stahlindustrie, Fischerei. Fast alles ist weg«, sagt Jake Molloy und schaut düster aufs Meer. Offshore tut sich nicht mehr viel. »2015 sind keine zehn neuen Bohrungen zu erwarten«, sagt Malcom Webb, Geschäftsführer von Oil & Gas UK. Das Acht- bis Zehnfache sei erforderlich, um die Produktionsmengen zu halten. Den Unternehmen sei die Nordsee zu teuer geworden: »Die Kosten sind in den letzten zehn Jahren unhaltbar hochgeschossen.« Wie in fast allen Ölrevieren der Welt.
Noch ist genug schwarzer Stoff für Jahrzehnte da. Mit neuen Technologien lassen sich weitere Lagerstätten erschließen. In den USA boomt das horizontale Fracking, bei dem mittels extremen Drucks das Gestein weit unter der Oberfläche aufgebrochen und durchlässiger für Flüssigkeit gemacht wird. Aber der Hightech-Einsatz verschlingt viel Geld: ob in US-amerikanischen Tonschiefern, kanadischen Teersänden, der Tiefsee vor Brasilien oder im venezolanischen Schwerölgürtel. Genau das mache sich Saudi-Arabien zunutze, mutmaßen Rohstoffexperten. Ihnen zufolge fluten die Saudis den Markt mit ihrem Öl, um die Preise zu drücken – und so den US-Frackern das Geschäft kaputt zu machen.
Die Saudis selbst können es sich leisten: Gerüchteweise schießt das Erdöl in einigen ihrer Quellen noch durch natürlichen Druck aus dem Boden. Andernorts ist das höchst rar. Das Ölzeitalter ist nicht zu Ende. Die Ära des easy oil schon. Nur selten wird noch mal ein super giant entdeckt: ein Mammutfeld mit mehr als 500 Millionen Fass Inhalt. Die meisten dieser Vorkommen, die noch immer mehr als die Hälfte des globalen Bedarfs decken, wurden vor Jahrzehnten erschlossen. Bei vielen sinkt die Ausbeute, der weltweite Erdölkonsum indes steigt weiter. Um die Lücke zu schließen, müssen Unmengen neuer, kleinerer Felder angepumpt werden. Sofern es sich für die Unternehmen lohnt. Und sofern sie überhaupt noch Geldgeber finden, bei diesem Preis.
Ein neu entdecktes Nordseefeld deckt den Ölbedarf der Welt für sechs Stunden
Wie aufwendig das Geschäft geworden ist, zeigt der Fall Brent. Das Feld, auf dem einst Jake Molloy arbeitete, ist erschöpft und wird bald stillgelegt (siehe Kasten). Mehr als zwei Milliarden Fass Erdöl und noch bedeutendere Mengen Erdgas haben Shell und Esso seit 1976 vom Meeresgrund geholt. »Heute sind Nordsee-Betreiber froh, wenn sie ein Feld mit 20 Millionen Fass erschließen«, sagt Alexander Kemp, Professor für Petroleumwirtschaft der Universität Aberdeen. Diese Menge verbrennt die Welt in nicht einmal sechs Stunden. Und die Kosten für geologische Untersuchungen, Sicherheitskonzepte und die Plattform sind bei einem 20-Millionen-Vorkommen nicht entscheidend niedriger als bei einem hundertmal größeren Feld. Auf ein Fass umgerechnet, also vielfach höher. Zudem liegen neu entdeckte Reservoirs oft in Hunderten, Tausenden Meter Tiefe. In ihnen kann es schon mal 190 Grad heiß sein und der Druck tausendfach höher als an der Oberfläche. Wer sie ausbeuten will, braucht Spezialwerkzeug.
Ein Industriegebiet bei Aberdeen: Der Arbeiter im feuerfesten Anzug legt Dutzende Metallquader in Zigarettenfiltergröße auf ein meterlanges Stahlrohr. Funken sprühen, als er sie elektronisch anlötet: Quaderchen für Quaderchen. Später wird eine Metallschicht über alles geschweißt, in stundenlanger Kleinarbeit entsteht so ein Stabilisator. Der ist nur eine Komponente des Bohrgestänges, die der österreichische Konzern Schoeller-Bleckmann herstellt. Viele der Präzisionsgeräte sind auf den Hundertstelmillimeter genau ausgetüftelt, voll mit Elektronik. Geschaffen für Extrembedingungen im Erdinneren. Für die moderne Ölwelt.
Von Krise und Stellenabbau ist in Schoeller- Bleckmanns schottischer Fabrik keine Spur. »Öl ist ein zyklisches Geschäft«, sagt Konzernchef Gerald Grohmann. »Wir schauen auf Kosten, aber schneiden nirgends so tief hinein, dass wir den nächsten Aufschwung verpassen.« Der komme bestimmt. »Sobald der Ölpreis fällt, stoppen die Konzerne Projekte, die sich nicht mehr rentieren«, sagt Grohmann. »Das ist die Grundlage für steigende Preise, solange die weltweite Nachfrage weiter wächst.«
Aberdeen braucht die Trendwende dringend. Schließlich ist die Nordsee nicht nur ein besonders kostspieliges Revier, zahlreiche Plattformen sind nach vierzig Jahren Betrieb überaltert. Der Staat müsse sofort Anreize für die Betreiber schaffen, um die Anlagen zu erhalten und weiter laufen zu lassen, fordert Jake Molloy. Sonst würden die großen Konzerne bald den Stecker ziehen. Für immer.
Hinter Molloy brummen plötzlich Motoren: Zwei große Lkw passieren die Hafenschranke, steuern auf die Olympic Hercules zu. In ein paar Stunden, so heißt es, werde das Schiff auslaufen. Es rührt sich noch was in Aberdeen.
Von der »Brent Spar« zur »Brent Delta« - Shell wrackt wieder ab
Das PR-Desaster Brent Spar haben sie bei Shell nicht vergessen. Im Jahr 1995 wollte der Konzern den schwimmenden Öltank im Meer versenken. Greenpeace-Aktivisten kaperten die Brent Spar. Bilder gingen um die Welt, auf denen Räumkommandos die Umweltschützer mit Wasserwerfern beschossen. Hunderttausende Autofahrer boykottierten daraufhin Shell-Tankstellen. Am Ende gab der Konzern nach und entsorgte die Brent Spar zu Land.
20 Jahre danach will Shell eine noch viel größere Nordsee-Anlage abwracken: Brent Delta, die erste von vier Förderplattformen des Brent-Ölfelds. Diesmal soll alles ökologisch korrekt laufen. Shells Vorschlag ist spektakulär: Der Konzern will den oberen Teil der rund 300 Meter hohen Konstruktion abtrennen und den 23 500 Tonnen schweren Block auf ein Spezialschiff laden lassen.
Aber was geschieht mit den übrig gebliebenen Betonpfeilern? Greenpeace mahnt, Shell dürfe gar nichts im Meer zurücklassen. Für Ärger sorgte auch der Name des Spezialschiffs: Pieter Schelte. Der Vater des Eigentümers Edward Heerema gehörte einst zur Waffen-SS. Heerema hat das Schiff nun umgetauft, in Pioneering Spirit. CHE