Volksfeind Nummer Eins


Der frühere IWF-Chef Rodrigo Rato steht in Spanien am Pranger: Als Symbolfigur für die jahrelange Korruption der herrschenden Elite. Von Claus Hecking für DIE ZEIT.

Madrid - Und dann ist er dran. Der unrasierte ältere Herr tritt über die Schwelle seines Hauses nach draußen. Fassungslos blickt Rodrigo Rato in die Kameras: erstaunt über die Dutzenden Objektive, die sich auf ihn richten. Steuerfahnder drängen sich um den früheren Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Szene erinnert an die Hausdurchsuchung beim früheren Post-Chef Klaus Zumwinkel 2008. Aber hier in Madrid sind einige Fahnder maskiert, so als verhafteten sie soeben einen Terroristen. »Räuber!«, schreien Umherstehende. Vor Rato blitzt es, seitlich schubst es. Und als der 66-Jährige sich der dunklen Limousine nähert, packt ihm von hinten ein Fahnder in den Nacken. Er drückt Rato nach unten, hinein auf den Rücksitz. Wie einen Schwerverbrecher.

Klick, klick, klick, dieses Foto wird am nächsten Tag fast alle Titelseiten zieren – obwohl Rato da längst wieder freigelassen ist, obwohl er alle Anschuldigungen bestreitet. Spaniens einstiger Vorzeige-Politiker und -Manager ist nun der Buhmann der Nation. Auch ohne Gerichtsurteil.

Korruption und Vetternwirtschaft, Gier und Inkompetenz. All diese Untugenden, mit denen Spaniens politische und wirtschaftliche Elite ihr Volk über Jahre gegen sich aufgebracht hat, scheinen nun verkörpert in einer Unperson: Rodrigo Rato, ehemals Superminister für Wirtschaft und Finanzen und früherer Chef der Skandalbank Bankia. Seine vorübergehende Festnahme am letzten Donnerstag wegen möglicher Steuerhinterziehung und Geldwäsche ist der vorläufige Tiefpunkt einer Welle von Skandalen, die das von Massenarbeitslosigkeit geplagte Land erschüttern. Rato selbst, einst Mitbegründer der regierenden konservativen Partei Partido Popular (PP), steht schon lange im Zentrum einiger dieser Affären.

Der neue Trubel um ihn könnte der Regierung von Premier Mariano Rajoy gelegen kommen. Bietet er doch die Chance, öffentlich Härte zu demonstrieren gegen den einstigen Mitstreiter. Und sich damit im Wahljahr 2015 an die Spitze zu setzen im Kampf gegen die Korruption.

„Für Rajoy ist Rato ein politischer Kadaver“

»Die Inszenierung, die aus der Festnahme gemacht wurde, war unnötig«, sagt der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón, der durch die Verfahren gegen die Eta und Chiles Diktator Pinochet berühmt wurde. Solange der Verdächtigte anwesend sei und kein Fluchtrisiko bestehe, sei eine derartige Festnahme nicht notwendig. Umso auffälliger sei es, »dass diese Durchsuchung stattfindet und 30 Medien einbestellt wurden«.

Antón Losada, Politologe an der Universität von Santiago de Compostela, spricht aus, was viele denken: »Für Rajoy ist Rato nach seinen zahlreichen Verfehlungen ein politischer Kadaver, den er jetzt noch einmal öffentlich tötet, um sich selbst zu retten.« Und wer eignet sich dafür besser als der einstige Rivale?

Jahrelang haben Rajoy und Rato um die Gunst von José María Aznar gebuhlt, dem langjährigen Premierminister und Übervater der PP. Als Aznar 1996 den Madrider Regierungspalast Moncloa übernimmt, macht er Rato zum Superminister für Wirtschaft und Finanzen. Der eloquente Politiker ruft einen »Aktionsplan zur Schaffung von Arbeitsplätzen« aus. Er senkt Unternehmensteuern, liberalisiert Schlüsselsektoren: Energie, Telekom, Transport. Senkt mit Privatisierungserlösen das Haushaltsdefizit unter die Maastricht-Grenze – und beschert Spanien so den Euro.

Der Schöpfer der fetten Kühe

Sein meistbewundertes Werk ist aber eine Bodenreform. Jede Gemeinde darf nun fast unbegrenzt Ackerflächen in Bauland umwidmen. Es ist der Startschuss zur Ära der vacas gordas, der »dicken Kühe«, wie die Spanier den großen Immobilienboom nennen. Bis 2007 verfünffacht sich der durchschnittliche Quadratmeterpreis im Land. Nordeuropäer dürsten nach Ferienwohnungen an der Costa del Sol, Einheimische und Einwanderer nach Eigenheimen im Speckgürtel der Metropolen. Kredite gibt es billig und reichlich: dank des Euros und liberaler Bankengesetze.

»España va bien«, »Spanien geht es gut«, lautet damals der PP-Slogan. Nein, Spanien geht es sogar immer besser: 3,9 Prozent, 4,5 Prozent, 4,7 Prozent, 5,0 Prozent sind die Wachstumsraten der Jahre 1997 bis 2000. Rato ist zeitweise beliebtester Politiker der Nation, seine Anhänger feiern ihn als »Wirtschaftsmagier«. Dass aus dem Immobilienwunder dereinst eine Immobilienblase werden könnte, ahnt zu diesem Zeitpunkt kaum jemand.

Zweimal bietet Aznar Rato später an, ihm nachzufolgen, zweimal sagt der Auserwählte ab: Er hält den perfekten Moment noch nicht für gekommen. Als er 2003 dann doch will, hat sich Aznar umentschieden – und den blassen Technokraten Rajoy erkoren. Ratos Karriere schadet es erst mal nicht. Während Rajoy die Parlamentswahl 2004 verliert, wird er selbst IWF-Chef, als Nachfolger von Horst Köhler. Doch schon nach drei Jahren wirft Rato hin, wegen »familiärer Umstände«, wie er erklärt.

2010 ist der Politmanager wieder ganz oben: als Chef der vom PP beeinflussten Sparkasse Caja Madrid, die kurz darauf mit sechs anderen Kassen zur Großsparkasse Bankia fusioniert. Rato bringt Bankia an die Börse, er will sie zur Volksaktie machen. Und so schwatzen Filialberater Zehntausenden Kleinkunden Bankia-Anteilsscheine auf. Obwohl sich da schon die Berichte über faule Immobilienkredite in Milliardenhöhe in den Portfolios der Sparkassen häufen. Keine zehn Monate nach dem Börsengang sind die Neu-Aktionäre das Gros ihres Investments los. Bankia steht vor dem Bankrott – und mit ihr der Staat. Rato tritt zurück, die EU rettet das Pleiteinstitut mit einem Notkredit über 21 Milliarden Euro, der gesamte spanische Bankensektor muss unter den Euro-Rettungsschirm.

Goldene Zeiten mit schwarzen Kreditkarten

Das Land fällt in eine tiefe Rezession, Hunderttausende verlieren ihre Arbeit. Parallel kommt ein großer Bestechungsskandal nach dem nächsten zutage. Meist sind hohe PP-Funktionäre verwickelt, ab und an auch die zweite Volkspartei, der sozialdemokratische PSOE.

Inzwischen ist Rato zur Symbolfigur aller Missstände geworden. Die Justiz wirft ihm vor, die Bankia-Bilanzen vor dem Börsengang gefälscht und Hunderttausende Aktionäre getäuscht zu haben; Rato bestreitet dies. Zum Feindbild macht ihn aber vor allem der Skandal um die »schwarzen« Kreditkarten, mit denen sich rund 80 frühere Spitzenfunktionäre des Bankia-Vorgängers Caja Madrid ein schönes Leben machten, auf Kosten der Sparer. Mehr als 15 Millionen Euro verjubelten sie für Restaurant- und Boutiquebesuche, Safaris, private Golftouren. Offiziell verbucht wurden die Ausgaben als Computerfehler. Rato selbst ließ unter anderem in vier aufeinanderfolgenden Nächten 1847 Euro in Diskotheken und Bars, kaufte einmal alkoholische Getränke für 3547 Euro – und zog in den letzten drei Monaten seiner Amtszeit mit der Karte 16 300 Euro Bares aus Geldautomaten.

Alles hat er mittlerweile zurückgezahlt, den Volkszorn hat es kaum besänftigt. Als er vorvergangene Woche, noch vor Bekanntwerden der neuen Ermittlungen, von Genf nach Madrid flog, erkannten ihn Mitreisende, verhöhnten Rato als »rata« (»Ratte«) und verfolgten ihn mit ihren Kameras bis zum Gepäckband.

»Für viele Spanier verkörpert Rato den Amigo-Kapitalismus, der das Land in die Krise geführt hat«, sagt Politologe Losada, »die Selbstbereicherung einiger Privilegierter auf Kosten von Aktionären und Steuerzahlern.« Jetzt erst recht, da die neuen Vorwürfe der Steuerermittler an Medien durchgestochen wurden. 26,6 Millionen Euro Vermögen soll Rato besitzen, darunter Anteile am Hotel Catalonia Berlin Mitte. Und über ein verschachteltes Netzwerk aus Tarnfirmen in Gibraltar, der Dominikanischen Republik oder Swaziland Geldflüsse verschleiert haben. Er selbst bestreitet dies. Seine ehemaligen Parteifreunde demonstrieren unterdessen Tatendrang: »Das Gesetz ist für alle gleich«, sagt Finanzminister Cristóbal Montoro kurz nach der Durchsuchung. Laut einer Umfrage des Gesop-Instituts wollten nur noch 23 Prozent der Spanier bei der Parlamentswahl am Jahresende für den PP stimmen: kaum mehr als für die Protestparteien Podemos und Ciudadanos.

»Rajoy versucht offenbar, Rato zum Gesicht einer vergangenen Ära zu machen«, sagt Losada, »und einen Neuanfang auszurufen, um doch noch Premier zu bleiben.« Ob das gelingt, ist fraglich. Im größten PP-Skandal spielt Rato keine Rolle: in der »Gürtel-Affäre« rund um Bau-Mogule, die eine Reihe Spitzenfunktionäre systematisch schmierten, um öffentliche Aufträge zugeschanzt zu kriegen. Und jetzt dräut schon die nächste Affäre. In der Region Kastilien und León sollen PP-Granden bei der Lizenzvergabe für Windparks dubiose »Kommissionen« kassiert haben. Auch damit hat das schwarze Schaf Rodrigo Rato nichts zu tun.

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