Oktoberfest am Ort von Folter, Psychoterror und Kinderschändung: Mit bayerischem Folklore-Kitsch versuchen die letzten Bewohner der früheren Sektensiedlung Colonia Dignidad Touristen in ihr Dorf zu locken. Scheitern sie, verlieren sie ihre einzige Zuflucht.
Villa Baviera - Als die ersten chilenischen Rentner das Zippel-Haus betreten, dreht der Kellner die Musik auf. „Grüß Gott miteinand’“, jodelt es durch die Lautsprecherboxen des Speisesaals, „genießt die schönen Stunden fern vom Alltagstrott.“ Es riecht nach Kassler mit Sauerkraut hier am Fuße der Anden, 12.000 Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt. Aber im Restaurant von Villa Baviera, dem Bayerischen Dorf, ist Heimat angesagt: Geweih und Lodenjacke hängen an den Wänden, Maßkrüge stehen auf den Regalen, im alten Ofen lodert ein Feuer. Blitzblank ist der graugrün geflieste Boden, vor den Fenstern zwitschern die Vögel; nichts deutet auf die blutige Vergangenheit dieses Ortes hin.
„Mmmmh!“, rufen die Rentner, als die dampfenden Platten aufgetragen werden. Diese Tagestour macht ihnen Laune. Eine Busstunde entfernt von ihrem Wohnort Parral in Mittelchile erleben sie ein Fleckchen Nachkriegsdeutschland aus dem Bilderbuch. Ausgerechnet hier, wo jahrzehntelang das Grauen regierte. Denn früher hieß Villa Baviera Colonia Dignidad.
Folter, Gehirnwäsche, Bespitzelung, Kinderschändung – kaum eine Missetat hat Paul Schäfer ausgelassen, der Gründer der Sekte, die sich 1961 hier in Chile ansiedelte. Zuvor hatte die deutsche Justiz Ermittlungen gegen den ehemaligen evangelischen Jugendpfleger aufgenommen: wegen Verdachts auf Unzucht mit Abhängigen. Schäfer emigrierte, nahm seine treuesten Schäfchen mit sich nach Chile. Und erschuf dort auf einem abgelegenen Landgut einen kleinen, totalitären „Staat im Staate“, wie Chiles späterer Präsident Patricio Aylwin die Colonia Dignidad nannte.
Schäfer trennte Männer von Frauen, Eltern von ihren Kindern, verbot ihnen jeden Kontakt zueinander, um so die Jungs ungestört sexuell zu missbrauchen. Wie Sklaven trieben Schäfer und seine Gefolgsleute ihre Gläubigen im Namen Gottes zur Schwerstarbeit. Traktierten sie mit Elektroschocks, schotteten sie mit Stacheldrahtzäunen, Sperranlagen und Stolperdrähten von der Außenwelt ab. Erschufen in der „Kolonie der Würde“ ein System der gegenseitigen Überwachung: mit Wanzen, Kameras und Schäfer als einzigem Beichtvater. Und um die Perfidie auf die Spitze zu treiben, sicherte sich Schäfer die Gunst Augusto Pinochets, indem der Sektenchef dem Diktator jahrelang Teile der weitläufigen Siedlung bereitstellte, wo die Geheimpolizei Oppositionelle inhaftierte, folterte, mordete.
Verzweifelter Versuch eines Neuanfangs
Unter Schäfers Herrschaft waren seine Jünger zeitweise fast hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt – sieht man vom Krankenhaus ab, das bisweilen auch Bewohner der umliegenden Dörfer behandelte. Die colonos sprachen kein Spanisch, hatten kein Fernsehen und setzten so sehr auf Selbstversorgung, dass Schäfer verkündete, „nur noch auf Salz und Reis“ von außerhalb angewiesen zu sein. Neben landwirtschaftlichen Betrieben gehörten Holzhandel, Lebensmittelproduktion und ein Steinbruch zum verschachtelten Firmengebilde. Schäfer selbst pflegte sehr wohl Beziehungen zur Außenwelt. Er wurde vom Pinochet-Regime finanziell unterstützt; die Sekte kassierte zudem Rentenzahlungen aus Deutschland, die einige Mitglieder erhielten. Den Kontakt zur Heimat ließ Schäfer nie abreißen. Unter anderem besuchten Franz Josef Strauß und andere CSU-Politiker die Kolonie.
Erst 1997 musste Schäfer vor der Polizei fliehen, 2005 wurde er in Argentinien gefasst. Auf dem Areal entdeckten die Ermittler eine mutmaßliche Hinrichtungsstätte, wo Regimeanhänger Gegner ermordeten, und ein verborgenes Waffenarsenal mit Maschinengewehren, Raketenwerfern und Granaten. 2010 starb Schäfer in der chilenischen Haft. Zurück blieb eine schwer traumatisierte Jüngerschar.
Heute singen die Gepeinigten im ehemaligen Folterlager das „Prosit der Gemütlichkeit“, feiern den Fassanstich, tanzen in Dirndl und Lederhose Schuhplattler für die Touristen, die zum „Bierfest“ oder „Oktoberfest“ ins neu benannte Villa Baviera kommen. Sogar meterlange Alphörner blasen die früheren Sektenmitglieder. Dabei stammen fast alle Familien hier aus Norddeutschland oder den einstigen Ostgebieten.
Was auf den ersten Blick pervers anmutet, ist der verzweifelte Versuch eines Neuanfangs. Um sich selbst zu retten, suchen die rund 115 übrig gebliebenen Bewohner der ehemaligen Colonia Dignidad ihr Heil im Tourismus. Vor zwei Jahren haben sie das Hotel Baviera eröffnet. Mit bayerischer Folklore wollen sie Besucher aus ganz Chile anziehen: Tagesgäste wie auch Familien, die hier Ferien machen sollen. Die colonos wollen der Außenwelt beweisen, dass sie keine Sektenfreaks mehr sind, sondern normale Menschen. Und sie brauchen das Geld, um ihre einzige Zuflucht zu bewahren. Denn die meisten hier haben nichts außer dem fundo, wie sie das Dorf nennen. Und mit dem Großgrundbesitz geht es wirtschaftlich bergab.
„Wir kommen um dieses Bayern-Klischee nicht herum“, sagt Anna Schnellenkamp und streicht sich durch ihre langen hellbraunen Haare. „Die meisten Chilenen verstehen unter deutscher Kultur nun mal Knödel, Trachten, Oktoberfest. Es ist unsere einzige Chance, das Dorf zu vermarkten und genug Gäste hierherzukriegen.“
Die 37-jährige, blasse Frau mit den Sommersprossen und den hellblauen Augen ist die Mutter des Tourismus in der Colonia Dignidad. Sie, die selbst hier aufwuchs, die unter Schäfers Regime nicht einmal ihre Geschwister kannte und schon als Minderjährige bis zu 17 Stunden täglich rackern musste, hat das Ferienort-Konzept erdacht – zusammen mit einem Wirtschaftsberater und Niels Biedermann, dem Psychiater, der seit Schäfers Inhaftierung die traumatisierten Sektenmitglieder betreut. Sie hat im Dorf für ihre Idee geworben, Zweifler überzeugt, den Aufbruch zu wagen und zu finanzieren – denn hier gehören alle Wirtschaftsbetriebe de facto der Gemeinschaft. Sie hat angepackt, hat den alten Versammlungsraum im Zippel-Haus zum Restaurant umgebaut und das Gemeinschaftshaus mit seinen Massenschlafsälen zum Mittelklasse-Hotel mit Doppelzimmern, WLAN und dem unvermeidlichen Weihnachtsplätzchen-Begrüßungsteller.
„Wir waren doch alle gehirngewaschen“
Hirsche röhren vom Zierporzellan herab, auf dem Balkon blühen die Geranien wie in Oberammergau. Im Ausguck, wo einst Schäfer seine Überwachungszentrale hatte, ist heute ein kleines Fitnessstudio mit Teichblick. Für Gruppen, die über das 16.000-Hektar-Gelände touren wollen, steht ein alter Bundeswehr-Unimog parat. „Wenn wir ein lebendiges Dorf werden wollen, müssen wir den Kontakt mit anderen Menschen suchen“, sagt Schnellenkamp, „und ihnen zeigen, dass wir nicht mehr so sind, wie man sich das vorstellt.“
Die chilenische Rentnergruppe schart sich um eine 55-Jährige, die sie Señora Erika nennen. Ihren Nachnamen möchte sie nicht in einer deutschen Zeitung lesen. Die Frau mit dem knielangen Rock hat die Besucher über die blitzblank gefegten, menschenleeren Wege des fundo geführt, hat ihnen Post, Bäckerei, Molkerei gezeigt. Und das Freihaus – den Ort, wo einst Paul Schäfer wohnte. Vom Anbau, in dem der Sektenguru jahrzehntelang Jungen missbrauchte, sind nur noch Umrisse an der Mauer übrig. Als Schäfer verschwunden war, kamen seine Opfer mit Hämmern und schlugen alles kurz und klein. „Wir sind auf ihn hereingefallen. Man hat uns unsere Jugend geraubt“, sagt Señora Erika in etwas brüchigem Spanisch.
Sie sitzt inmitten der Besucher, beantwortet Fragen, erzählt ihre Lebensgeschichte. Von den Steinen, die sie schon als Fünfjährige aus den Äckern holen musste, von den Psychopharmaka, die ihr verabreicht wurden. Von den Schulbüchern, in denen alles zugeklebt wurde, was mit Familie zu tun hatte, von ihren Eltern, die sie jahrzehntelang nicht kannte. „Wir waren wie Kinder“, sagt Señora Erika. Als sie nach Schäfers Flucht heiratete, mit 42, da fragte ihr Mann nach zwei Monaten: „Jetzt sind wir doch ein Ehepaar, wann bringen sie uns wohl die Babys?“ Erst der Arzt klärte die beiden auf. Nachwuchs haben sie nie bekommen. „Bei mir war nichts da“, sagt Señora Erika. Jahrelang hatte „Tio Permanente“, der „Ewige Onkel“, wie sich Schäfer titulierte, Schützlingen mit dem elektrischen Viehtreiber Stromstöße auf die Genitalien verpasst.
Señora Erika hat versucht, auszubrechen aus dem Gefängnis ihres Lebens. Der Stacheldrahtzaun stand schon Jahre offen, da büffelte sie Spanisch, zog weg in eine chilenische Stadt. Aber wenn sie da mit ihrem Mann durch die Gassen ging, „dann riefen uns die Leute ›Schäfer, Schäfer‹ hinterher“, erzählt sie. „Und in Deutschland wären wir auch verloren.“ Dutzende ehemalige colonos haben versucht, ein neues Leben anzufangen in der anderen Welt, gelungen sei die Integration aber nur wenigen, sagt Psychiater Biedermann: „Viele, die gegangen sind, haben eine schlechtere Entwicklung gemacht als die Dagebliebenen.“ Weil sie da draußen in der Fremde niemand versteht.
Keine Spanischkenntnisse, keine Ausbildung, kein Geld, keine eingezahlten Beiträge für die chilenischen Renten- und Sozialkassen: Die Startbedingungen fürs Leben in der modernen Welt können schlechter kaum sein. Laut der deutschen Botschaft in Santiago de Chile, die über das Thema sehr ungern spricht, sind vor allem die älteren Bewohner deutsche Staatsbürger, die jüngeren sind überwiegend Chilenen.
Würde das Dorf dichtmachen, hätte der deutsche Staat wohl die Verpflichtung, sich um seine Bürger zu kümmern, sie nach Deutschland zu fliegen und ihnen zumindest Hartz IV zu zahlen. Arbeiten können die wenigsten.
Viele sind nicht nur seelisch, sondern auch körperlich gehandicapt – wie Señora Erika mit ihrer kaputten Wirbelsäule, vom Wurzelziehen und Steineschleppen in der frühen Kindheit. Sie ist zurückgekehrt auf den fundo. Hofft darauf, dass die chilenische Justiz ihren Mann bald aus dem Gefängnis entlässt, er soll Schäfer andere Jungen zugeführt haben. „Wir waren doch alle gehirngewaschen“, sagt Señora Erika und blickt starr zu Boden. „Wir sind Opfer, keine Täter.“ Nur Schäfers schlimmste Schergen hätten von den chilenischen Oppositionellen auf dem Gelände gewusst.
Die Angehörigen der Gefolterten und Ermordeten waren entsetzt, als sie von den Tourismusplänen erfuhren. Sie gingen demonstrieren vor Villa Baviera, hängten außerhalb der Eingangstore Bilder der Opfer auf. „Warum macht sich die deutsche Regierung nicht für einen McDonald’s in Auschwitz oder Treblinka stark?“, schrieben sie in einem Brandbrief an Chiles damaligen Präsidenten.
Mehrmals haben sich die Angehörigen seither mit der Hotelgründerin Anna Schnellenkamp, deren Mitstreitern und Psychiater Biedermann getroffen. Sie haben sich das Konzept und die Beweggründe in allen Details erläutern lassen; ihre Empörung hat sich etwas gelegt. Doch die meisten sind immer noch dagegen. „Ich verstehe, dass diese Leute überleben müssen und beweisen wollen, dass sie sich geändert haben“, sagt Erika Hennings, Ehefrau eines seit vier Jahrzehnten verschwundenen Regimegegners, „aber diese Art von Tourismus passt nicht zu diesem Ort.“ Villa Baviera müsse sich erst einmal richtig mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen.
Die Aufarbeitung der dunklen Geschichte fällt den colonos schwer. In der mehrere Meter langen Chronik, die an der Außenwand des Hotels Baviera hängt, steht als Kommentar zur Epoche 1961–1997 lapidar „Años difíciles“ – „schwierige Jahre“.
Zwar haben eine Reihe Bewohner 2006 in einem offenen Brief die Sektenopfer um Vergebung gebeten und sich zur Verantwortung bekannt – aber nicht alle hier haben das Schreiben unterstützt. Anna Schnellenkamp plant schon lange ein Museum über die Geschichte der Colonia. Im Kartoffelkeller, wo einst die Regimegegner gequält wurden, soll einmal der dunkelste Teil der Sektengeschichte aufgearbeitet werden. Aber das stößt auf Widerstand im Dorf. „Viele hier wollen das Museum noch nicht“, sagt Schnellenkamp.
Ein schrecklicher Ort, aber die einzige Heimat
Señor Sergio übt auf einem alten Keyboard und singt. Als kleinen Jungen hatte Schäfer ihn zwangsadoptiert.
Ein Generationenkonflikt spaltet Villa Baviera. Auf der einen Seite sind die über 70-jährigen. Viele von ihnen halten nichts von Schuldbekenntnissen. Sie gelten als die Tätergeneration, weil sie beim Aufbau der Colonia Dignidad schon volljährig waren, noch selbst die Wahl hatten – und Paul Schäfers Werkzeuge wurden. Auf der anderen Seite stehen die meisten Mitglieder der mittleren und der jungen Generation: Menschen wie Señora Erika oder Anna Schnellenkamp. Sie kamen als kleine Kinder hierher oder wurden hier geboren, kannten nichts anderes als dieses System, haben ihr halbes Leben lang nur der Sekte gedient. Jetzt müssen sie wieder schuften für die Alten, unter denen ihre Eltern sind, aber auch ihre einstigen Peiniger. Um das Ganze zu retten.
Villa Baviera ist völlig vergreist. Mehr als die Hälfte der 115 Dorfbewohner sind im Rentenalter. Hinzu kommen zahlreiche Invaliden, die unter den Spätfolgen von Misshandlungen, Medikamenten und frühkindlicher Arbeit leiden. An 20-, 30-, 40-Jährigen mangelt es hingegen. Zwischen 1970 und 1998 wurden nur eine Handvoll Kinder geboren, denn Sex prangerte Schäfer als Sünde an. Nur seine engsten Gefolgsleute durften die Ehe vollziehen: Leute wie Anna Schnellenkamps Vater, der heute ebenfalls im Gefängnis sitzt.
Und so fehlt in der Siedlung fast eine ganze Generation – die Leistungsträger von heute, die jetzt die Gemeinschaft führen und die Rentner sowie mehr als ein Dutzend Kinder mitversorgen sollten. In der Not stellt Villa Baviera immer mehr Chilenen ein. Das bricht die Isolation auf, kommt das überalterte Dorf aber auch richtig teuer zu stehen. Denn viele Produkte, die es der Außenwelt verkauft, werden noch per Hand gefertigt – wie zu Urgroßvaters Zeiten.
In der Konditorei füllt eine Arbeiterin „Villa Baviera“-Quark in Portionsbecherchen ab – mit dem Esslöffel. Behutsam wiegt sie Schälchen für Schälchen grammgenau ab, dann streicht sie die Masse glatt, wischt den Rand mit Küchenkrepp sauber, baut eine kleine Becherpyramide auf. Ihre Kollegin nimmt ein Schälchen herunter, bringt mit dem Handbügeleisen die Schutzfolie an. Schließlich sterilisiert und vakuumiert sie den Quark: Becherchen für Becherchen. So vergehen Stunden, bis eine Supermarkt-Charge endlich fertig ist; die Konkurrenz von der Lebensmittelindustrie ist hundert-, tausendmal schneller. Doch für neue Maschinen fehlt den colonos das Geld.
Das Hotel schreibt Verluste
Ihr einst beachtliches Firmenimperium ist ins Wanken geraten. Steuernachforderungen, Entschädigungszahlungen an die Opfer, teils ungeklärte Geldabflüsse ins Ausland nach Schäfers Abgang, eine überteuerte neue Steinbrechanlage sowie der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften – all das hat die Unternehmen massiv geschwächt. „Wir sind wirtschaftlich in einem Tief“, gibt Anna Schnellenkamp zu. 30.000 Gäste seien im vergangenen Jahr gekommen, das Hotel sei zu 40 Prozent ausgelastet gewesen – bei Einzelzimmerpreisen ab 48 Euro. Davon kann das Dorf kaum leben, und die Einnahmen reichen längst nicht, um die vielen Gesellschafter zu versorgen: die Bewohner, die meist gar kein anderes Einkommen haben. Und das Tourismusgeschäft, auf das viele so gehofft haben, wirft bisher keine Gewinne ab.
Kein Wunder. Der chilenische Tourismusverband erwähnt Villa Baviera nicht einmal auf seiner Website. „Wir kennen diese Anlage. Aber wir empfehlen die Region eher als Natur-Destination, etwa zum Wandern“, sagt eine Sprecherin von Chile Turismo. Mehr will sie nicht sagen.
Nur zwei Zimmer im Hotel Baviera waren diese Nacht belegt. Das Haus schreibt auch im Jahr zwei nach Eröffnung Verluste. „Man fühlt sich wie im Zoo“, sagt Señora Anett, die Rezeptionistin. „Die meisten Gäste reisen einmal an, um uns anzugucken, aber kaum jemand kommt zurück.“ Dafür ist der fundo wohl auch zu abgelegen, Hunderte Kilometer entfernt von Ballungsgebieten oder anderen touristischen Sehenswürdigkeiten. Jeder, der nach Villa Baviera will, muss sich von der nächstgelegenen asphaltierten Straße noch mindestens eine Dreiviertelstunde lang über eine löchrige Schotterpiste quälen. Und je normaler das Dorf wird, desto unattraktiver wird es für die Touristen.
In ihrer Not beginnt sich die Colonia kleinzuschrumpfen. Diesen Morgen sind Transporter angekommen, haben elf der verbliebenen 38 Kühe weggebracht, einst waren es gut 300 Tiere. Bald sollen die letzten folgen: Die Molkerei wird eingestellt. Es geht ans Tafelsilber. „Eventuell werden wir auch Grundstücke und ein Restaurant verkaufen“, sagt Anna Schnellenkamp.
Wo woll Herr Sergio sonst hin?
Sie müsste sich das hier nicht antun. Sie ist jung, hat eine Ausbildung als Hotelfachfrau und einen Partner in der Hauptstadt Santiago. Sie hat Villa Baviera schon mehrmals den Rücken gekehrt, als sie es nicht mehr aushielt, hat sich im echten Leben bewiesen. Und doch zieht es sie immer wieder zurück. Weil dieser Ort zwar schrecklich war, aber auch ihre einzige Heimat ist. „Ich habe hier eine Arbeit angefangen, die nicht halb liegen bleiben darf“, sagt sie. „Ich will die Menschen hier nicht im Stich lassen.“
Wo sollten Leute wie Señor Sergio auch hin, wenn alles zusammenbricht? Der 57-jährige Rollstuhlfahrer sitzt im leeren Festzelt, hinter dem „Herzlich willkommen“-Schild, und übt auf dem Uralt-Keyboard. „Es war eine gute Zeit“, singt er, „eine Zeit mit Liebe.“ Liebe hat Sergio selbst nie erfahren, nur sexuelle Gewalt. Ihn, den Schäfer als kleinen Jungen zwangsadoptierte und quälte, habe noch nie eine Frau geküsst, sagt er. „Dafür hat Gott mir die Musik geschenkt.“
Auf den Dorffesten gibt er die Stimmungskanone, die Gemeinschaft entlohnt ihn mit umgerechnet 175 Euro pro Monat. Das reicht für Miete, Strom und ein warmes Essen täglich in der Gemeinschaftsküche. In der Welt da draußen warte niemand auf ihn, sagt Sergio.
Nebenan im Zippel-Haus sind die chilenischen Touristen fertig mit ihrem Mahl. Noch ein paar letzte Erinnerungsfotos, dann schlendern sie zurück zum blauen Reisebus. Der letzte Gast hat die Saaltür gerade hinter sich geschlossen, da verstummt die Volksmusik abrupt. Genug heile Welt für heute.