Die Reparatur der Erde


Trotz aller Abkommen und Beschlüsse – der Kampf gegen den Klimawandel scheint verloren. Um ihn doch noch zu gewinnen, wollen Ingenieure die Ozeane düngen, den Himmel verspiegeln und Kohlendioxid versteinern. Sind sie verrückt? Von Wolfgang Uchatius, Claus Hecking und Malte Henk für DIE ZEIT

Reykjavik / Squamish / Bremerhaven / Harvard - In Island haben sie es geschafft, den gefährlichsten Stoff der Welt in Stein zu verwandeln. Er liegt in einer mit Folie ausgekleideten Holzkiste in einer Lagerhalle am Stadtrand von Reykjavík. Länglich ist er, der Stein, dunkel, nicht besonders groß. Ein wenig erinnert er an einen Faustkeil, an das erste Werkzeug des Menschen. Ein Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit.

In Wahrheit ist er eine Botschaft aus der Zukunft.

Man kann den Stein in die Hand nehmen, kann mit den Fingern sanft über seine glatte Oberfläche streichen, kann sein Gewicht prüfen, die Temperatur fühlen, er ist schwer, aber nicht schwerer als andere Steine, kalt, aber nicht kälter als andere Steine. Der Unterschied spielt sich im Kopf des Betrachters ab.

Die Isländerin, die die Tür zur Lagerhalle aufgeschlossen hat, lächelt den Stein an. »Irgendwo da drin ist es«, sagt sie.

Das Kohlendioxid.

CO2, verwandelt zu Stein

Die Verbindung eines Kohlenstoffatoms mit zwei Sauerstoffatomen, auch CO2 genannt, ist ein Grundstoff des Lebens. Der Mensch und alle Tiere atmen es aus, Pflanzen atmen es ein. Es wäre ein stabiler Kreislauf, hätte der Mensch es beim Atmen belassen und nicht angefangen, Öl, Gas und Kohle zu verbrennen. So erzeugt er mehr, viel mehr CO2, als alle Pflanzen der Welt einatmen können. Die überschüssigen Moleküle reichern sich in der Atmosphäre an, sie legen sich wie eine dicke Decke um die Welt. Eine Decke, die verhindert, dass Wärme ins All entweicht. Weshalb nun Polkappen schmelzen und Meeresspiegel steigen, immer häufiger Wirbelstürme über die Erde fegen und Hitzewellen das Wasser aus den Äckern ziehen.

Arsen ist giftiger, Fluor-Antimonsäure ätzender, Nitroglycerin explosiver. Aber wohl keine Substanz wird das Leben des Menschen in den kommenden Jahrzehnten so sehr verändern wie das Kohlendioxid.

Es sei denn, es wird rechtzeitig zu Stein.

Eine halbe Stunde Fahrt von der Lagerhalle in Reykjavík entfernt endet ein einsamer Highway in einer windumtosten Ende-der-Welt-Landschaft. Ein Lavafeld, baumlos und schwarz, überzogen mit dünnem Moos und gelbem Gras, eingehüllt in Schwefeldämpfe. Die Erde brummt, die Erde stinkt, durch den Rauch erkennt man die Gebäude eines Kraftwerks. Das Unternehmen Orkuveita Reykjavíkur, übersetzt: Reykjavík-Energie, holt hier Wasserdampf aus dem Boden. Der Wasserdampf lässt sich in Strom und Wärme für die Isländer verwandeln, das ist gut. Aber mit dem Dampf kommt auch CO2 aus der Tiefe der Erde nach oben, das ist schlecht.

Das Gute ist ohne das Schlechte nicht zu haben, so schien es bis vor Kurzem. Dann kamen Wissenschaftler hierher, aus Frankreich und Amerika und von der Universität in Reykjavík. Sie ließen sich die Anlage zeigen, entwarfen Pläne, diskutierten über Pipelines und Bohrtiefen, über diesen unerhörten Plan, der womöglich die Welt retten kann, zumindest ein kleines bisschen, und der in einem ersten Schritt schlicht darin besteht, das frei werdende Kohlendioxid mit Wasser zu mischen.

Heute kann man auf dem Lavafeld eine Art Metallzelt betreten, etwas abgelegen von den Hallen des Kraftwerks trotzt es den Kräften der Natur, wie eine Schutzstation auf dem Mond. Drinnen sieht man stählerne Pumpen und gläserne Rohre, durch die das klare, saure Gemisch aus CO2 und Wasser in den porös-schwarzen Steinboden strömt.

Was dort unten, in anderthalb Kilometern Tiefe, geschieht, lässt sich nicht besichtigen, nur beschreiben. Das Gemisch sammelt sich in unzähligen kleinen Hohlräumen und löst Mineralien aus dem Gestein, die sich mit dem Kohlendioxid verbinden, es verfestigen und verwandeln. In Kalkstein. Der Beweis, in Probebohrungen aus dem Boden geholt, liegt hundertfach in der Lagerhalle in Reykjavík. Vor allem aber liegt er dort unten, in den Eingeweiden der Erde.

So haben es die Isländer fertiggebracht, das größte Problem der Menschheit dort zu verstauen, wo es niemanden stört, jedenfalls einen kleinen Teil davon.

Eigentlich ganz einfach.

Vor knapp einem Jahr trafen sich Delegierte aus allen Ländern der Erde in Paris zur 21. Weltklimakonferenz. Dort ereignete sich etwas, das nach dem langjährigen Stillstand der Klimadiplomatie als Überraschung erscheinen musste: Die Staaten einigten sich auf einen Beschluss. Die weltweite Durchschnittstemperatur soll gegenüber der vorindustriellen Zeit um »deutlich weniger als zwei Grad« steigen. Das ist das Bestreben, festgeschrieben im Pariser Klimaschutzabkommen. Übernächste Woche werden sich die Delegierten in Marrakesch wiedersehen, zur 22. Weltklimakonferenz, um über die Umsetzung dieses Beschlusses zu reden.

Man kann den Vertrag von Paris als Anlass zur Zuversicht werten. Die Welt mag daran scheitern, den Krieg in Syrien zu beenden, sie mag streiten über Freihandelsabkommen und Flüchtlingskrisen, aber, immerhin, sie ist sich einig, wenn es darum geht, das einzige wahrhaft globale Problem der Menschheit zu bekämpfen.

Man kann in dem Abkommen aber auch ein Dokument des Zuspätkommens sehen. Ein 32 Seiten knappes Schriftstück, das viel von seiner Kraft verliert, wenn man die Nachricht im Kopf hat, die kürzlich in einigen Zeitungen und Nachrichtenportalen stand, aber nur ganz klein. Sie enthielt ein merkwürdiges Drei-Buchstaben-Kürzel: ppm, es steht für parts per million, Teile pro eine Million Moleküle. In ppm geben die Klimaforscher an, wie viel Kohlendioxid sich über der Erde angesammelt hat, es ist der Wert, an dem sich ablesen lässt, wie dick die Decke in der Atmosphäre ist. Als die Menschheit vor 250 Jahren begann, großflächig Kohle zu verfeuern, lag er bei 280 ppm.

In der Meldung stand, dass der Wert, historisch gesehen, im Jahresverlauf schwankt. Im September ist er am niedrigsten, weil den Sommer über viele Pflanzen wachsen, die Pflanzen holen CO2 aus der Luft. In jedem September der vergangenen 800 000 Jahre lag der Wert unter 400 ppm. Außer im September 2016. In diesem Herbst hat die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zum ersten Mal die 400-ppm-Marke überschritten.

Die Decke ist jetzt ziemlich dick.

Sie ist so dick, dass die Menschheit, wenn sie tatsächlich das im Vertrag von Paris festgeschriebene Zwei-Grad-Ziel erreichen will, nur noch etwa 20 Jahre lang Öl, Gas und Kohle auf dem derzeitigen Niveau verbrennen darf. Danach müsste von einem Moment auf den anderen der Verbrauch fossiler Brennstoffe auf null sinken, und zwar für immer. So hat es der IPCC, der Klimarat der Vereinten Nationen, berechnet.

Milliarden Menschen in Asien müssten dann ihren Strom ausschließlich aus Sonnen- und Windenergie beziehen. Hunderte Millionen Amerikaner und Europäer müssten ihre Autos verschrotten. Zehntausende Flugzeuge dürften nicht mehr mit Kerosin fliegen, sondern mit – ja, womit eigentlich? Und Saudi-Arabien mit seinem unermesslichen Ölreichtum wäre pleite.

Seit der Erfindung des Faustkeils kannte die Geschichte des Menschen nur ein Entwicklungsziel: mehr! Mehr Essen, mehr Häuser, mehr Wohlstand, mehr Leben. Jetzt, 1,8 Millionen Jahre später, soll auf einmal, innerhalb kürzester Zeit, eine Wende zum Weniger gelingen? All die Asiaten und Afrikaner, die gerade den Mangel überwinden, sollen sich jetzt schon wieder einschränken?

Nicht sehr wahrscheinlich.

Also weiter Kohlendioxid erzeugen, die Decke verdicken, die Erde erhitzen? Auch keine Lösung.

Es ist diese Ausweglosigkeit, die neue Ideen gebiert. Ideen, die weit über den Bau neuer Wind- und Sonnenkraftwerke hinausgehen. Ideen, die anders sind als alles, was bisher auf sämtlichen Klimakonferenzen der Welt diskutiert wurde. Verrückter, radikaler, mitunter: gefährlicher.

Manche der mysteriös anmutenden Phänomene sind bereits Wirklichkeit geworden, meist an abgelegenen Orten wie einem Wasserwirbel im Südpolarmeer, einem kanadischen Fjord oder dem Lavafeld bei Reykjavík. Andere existieren nur in den Köpfen von Wissenschaftlern. Alle aber sind sie menschengemacht, erdacht als Antwort auf eine Frage, die die Welt künftig von Jahr zu Jahr mehr beschäftigen wird: Ist eine hitzefreie Zivilisation möglich?

Edda Sif Aradóttir, Ingenieurin in der Forschungsabteilung von Orkuveita Reykjavíkur, absolviert den Rundgang über die Vulkanlandschaft des Kraftwerks inzwischen so routiniert, als erkläre sie in einem Museum die Dauerausstellung. Sie hat ständig Besucher, sie ist eine Fremdenführerin in Sachen Zukunft der Menschheit. Kamerateams filmen das klare CO2-Wasser auf seinem Weg in die Tiefe, Künstler wollen die fertigen Steine in ihre Werke einbauen. Ihnen allen erklärt Edda Sif Aradóttir jedes Mal geduldig, dass die Steine gar keine Wundersteine sind. Dass es hier um simple Chemie geht, um Reaktionsformeln, die in Schulbüchern stehen. Um das Beschleunigen eines natürlichen Prozesses.

Kohlendioxid lässt sich in Stein verwandeln. Das wusste die Wissenschaft schon sehr lange. Aber es braucht Zeit, Jahrzehnte, womöglich gar Jahrhunderte. So war der Kenntnisstand, die Vermutung, als die Forscher in Island mit ihrem »CarbFix«-Experiment begannen. Dann zeigte sich: Die Gesetze der Chemie wirken schneller als erwartet.

Nach 550 Tagen setzten die Wissenschaftler den Bohrer an, holten Gestein hoch, untersuchten es, gingen Molekülspuren nach – und entdeckten das CO2 aus dem Kraftwerk. Jubel, Freude, Sensation. Weniger als zwei Jahre genügen, um das Klimagas in ungefährlichen Kalkstein zu transformieren.

Anfangs lief die Versteinerungsmaschine nur im Testbetrieb, inzwischen pumpen Edda Sif Aradóttirs Kollegen in diesem Kraftwerk schon ein Viertel des CO2-Ausstoßes in den Boden. Neue große Kraftwerke dieser Art werden die Technik jetzt übernehmen. Das Klimagas kommt wieder dorthin, wo es herkam. »Wir können uns hier Richtung null Emissionen bewegen«, sagt Edda Sif Aradóttir. »Das ist möglich.«

Auch das CO2, das in deutschen Kohlekraftwerken entsteht, könnte man nach der isländischen Methode loswerden. Natürlich geht das nicht ohne Kosten, für jede versteinerte Tonne CO2 fallen in Island etwa 25 Euro an. Man hört dies und fängt an zu rechnen: Deutschland hat im vergangenen Jahr 908 Millionen Tonnen Kohlendioxid ausgestoßen. Würde man sie unter die Erde pumpen und versteinern, würde das knapp 23 Milliarden Euro kosten. Nicht billig, aber machbar, im Moment gibt der deutsche Staat im Jahr fast genauso viel für den Bau und Erhalt von Straßen, Wasserwegen, Schienen und Datenleitungen aus.

Das Problem ist ein anderes, man erkennt es, wenn man in Island das Metallzelt mit den Pumpen und Rohren wieder verlässt und ins Freie tritt, hinaus auf das Lavagestein, das sich über den Boden zieht, schwarz und körnig. Geologen nennen es Basalt, im Unterschied zu anderen Gesteinsarten ist es reich an Magnesium, Kalzium und Eisen, und da fängt es an, schwierig zu werden, denn es sind diese Mineralien, mit denen das Kohlendioxid reagiert. Die Basaltvorkommen auf der Erde aber sind ungleich verteilt. Indien zum Beispiel hat sehr viel davon, dorthin könnten die Isländer ihre Technologie exportieren. In Mitteleuropa dagegen gibt es nicht so viel Basalt, dafür umso mehr in Sibirien und auf dem Meeresgrund, aber dort leben keine Menschen, dort stehen keine Kraftwerke.

Es ist wie mit der Sonne. Das Licht, das auf die Sahara fällt, würde theoretisch genügen, um die Menschheit auf alle Zeiten mit sauberer Energie zu versorgen. Dummerweise lebt ein großer Teil der Menschheit ziemlich weit von der Sahara entfernt.

Die Forscher und Tüftler dieser Welt werden weiter nachdenken müssen.

Wird heute über den Klimawandel diskutiert, ist meist von zwei Berufen die Rede: dem Politiker und dem Manager. Ersterer habe die Aufgabe, internationale Bündnisse zu schmieden und schärfere Gesetze zu verabschieden. Letzterem obliege es, neue Märkte für umweltfreundliche Produkte zu erschließen. Das ist nicht falsch. Doch die wichtigste Rolle im Kampf gegen den Klimawandel hat ein anderer.

Der Ingenieur.

Vielleicht war es Gott, der die Welt erschuf. Der Mensch als Ingenieur aber hat sie gestaltet. Er brachte das Rad in die Welt und die Dampfmaschine und verband beides zur Lokomotive. Er entdeckte die Elektrizität und die Glühlampe und nahm der Dunkelheit ihren Schrecken. Er ließ den Traum vom Fliegen Wirklichkeit werden und sorgte dafür, dass Raumfahrer den Mond betraten. Die Geschichte der Zivilisation ist eine erst langsame, dann immer schneller werdende Abfolge von Innovationen.

Die Tragik des menschlichen Schöpfergeistes liegt darin, dass er Himmel und Erde stärker veränderte, als es je zu ahnen war. Kein Erfinder hat geplant, die Welt zu erwärmen, es ist eben passiert, weil fast jede der glückspendenden Neuerungen den Energiebedarf der Zivilisation erhöhte. So wurde die Decke in der Atmosphäre dicker und dicker, und die Natur geriet aus ihrem Gleichgewicht. Die Ozeane und die Flüsse, die Wälder und Wüsten, Seen und Gebirge, sogar die Eisflächen an den Polen – der Klimawandel hat jeden Punkt des Globus erfasst. Kein Lebewesen auf der Welt, das nicht unter dem Einfluss des Menschen stünde.

Früher waren es die Kräfte der Natur, die auf der Erde herrschten, und sonst nichts. Doch das ist vorbei. Weshalb Wissenschaftler inzwischen von einem neuen Erdzeitalter sprechen, dem Anthropozän. Dem Menschenzeitalter.

Man kann den Klimawandel daher auch als eine Art Kräftemessen sehen, als Kampf zwischen der Natur und ihrem vermeintlichen Bezwinger. Als ultimative Aufgabe an den Ingenieur: Zeig, dass du wirklich die Natur beherrschst. Denk dir etwas aus, das es ermöglicht, das Kohlendioxid aus der Luft zu holen und die wärmende Decke aufzutrennen.

Als das Schiff am 21. Januar 2004 aus dem Hafen von Kapstadt an der Südspitze Afrikas ausläuft, hat es satellitengestützte Geräte an Bord, mit deren Hilfe Victor Smetacek jederzeit erkennen kann, wo sie sich befinden. Doch Smetacek braucht die Apparaturen nicht, um zu sehen, dass sie sich der Antarktis nähern. Es genügt ihm, sich an die Reling zu stellen und hinauszublicken auf die Wellen und die Gischt und dabei auf das Schimmern des Ozeans zu achten. Er ist auf der Suche nach blauem Wasser.

Victor Smetacek ist von Deutschland nach Südafrika geflogen und an Bord dieses Schiffes gegangen, an dessen Bug in großen weißen Buchstaben das deutsche Wort Polarstern steht. Die Polarstern ist das Expeditionsschiff des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, für das Smetacek arbeitet. Er ist hier, um eine Forschungsfahrt zu leiten, bei der es um eine ungewöhnliche Frage geht: Lässt sich das Polarmeer fruchtbar machen?

Schaut man von einem Schiff aufs Meer hinaus, kann man es leicht für eine homogene Wassermasse halten, aber das ist ein Irrtum. Das Meer ist wie das Land, es gibt Gebiete mit vielen und Gebiete mit wenigen Nährstoffen, mit vielen und mit wenigen Lebewesen. An der Küste Südafrikas war das Wasser türkisgrün und voller Pflanzen und Fische. Im Südpolarmeer, wohin Smetacek jetzt unterwegs ist, ist der Ozean blau. Blau ist die Farbe der Meereswüsten.

53 Wissenschaftler nehmen an der Expedition teil. Sie haben nicht nur Messgeräte und Mikroskope an Bord, sondern auch mehrere Hundert Säcke, gefüllt mit weißem Pulver, Eisensulfat. Sieben Tonnen sind es, die sie ins Meer kippen, jetzt, da sie einen Wasserwirbel nahe der Antarktis gefunden haben. Eisenpartikel, die dort hineinfallen, verteilen sich nicht in der großen Weite, sie verbleiben auf engem Raum, rotieren mit dem Wasser um eine unsichtbare Achse, bis sie aufgesogen werden von einer Pflanze, die hier, im Polarmeer, lebt. Der Kieselalge.

Man darf sich Kieselalgen nicht vorstellen wie jene Algen, die man von den Stränden des Mittelmeers oder der Nordsee her kennt, nicht wie Meerespflanzen, die grün und grasartig im Wasser hängen. Kieselalgen sind für das menschliche Auge unsichtbar, es sind winzige, einzellige Lebewesen, die erst unter dem Mikroskop eine zarte, unwirkliche Schönheit entfalten, wie Schneekristalle.

Was Kieselalgen mit Gras und Bäumen gemeinsam haben: Auch sie wandeln Kohlendioxid in Sauerstoff um, sogar besonders viel davon. Wissenschaftler schätzen, dass etwa die Hälfte allen Sauerstoffes auf der Erde von Meerespflanzen wie der Kieselalge gebildet wird, dem sogenannten Phytoplankton. Die grüne Lunge der Erde ist nicht der Regenwald. Es ist die Kieselalge.

Kieselalgen brauchen Eisen, um zu leben und sich zu vermehren. In Meereswüsten wie dem Südpolarmeer gibt es zu wenig davon, die Kieselalgen kümmern vor sich hin. Wenn es gelänge, das Wachstum dieser Algen durch die Zugabe von Eisen anzuregen, dann wäre das, als würde man Abermilliarden winzige Maschinen ins Wasser setzen, die das Kohlendioxid aus der Atmosphäre ziehen. Die Decke würde dünner, die Erde kühler.

Schon Jahre vor Victor Smetaceks Expedition arbeitete der amerikanische Ozeanwissenschaftler John Martin diesen Zusammenhang heraus. Martin sagte: »Gebt mir einen halben Tanker voller Eisen, und ich beschere euch die nächste Eiszeit.«

Deshalb ist Victor Smetacek ins Polarmeer gefahren. Er will herausfinden, ob John Martin recht hatte. Smetacek will den Ozean düngen, mit Eisen.

Anderthalb Tage lang lässt Smetacek das Pulver ins Meer kippen, dann sind die Säcke leer. Eisiger Wind peitscht die Wellen auf, die Gischt schlägt über das Schiff. Den Wissenschaftlern bleibt jetzt nichts anderes, als das Wasser zu beobachten und Proben zu nehmen, immer wieder, bis sie ein Ergebnis sehen.

Sie müssen nicht lange warten. Tatsächlich, die Kieselalgen wachsen. Sie sprießen wie Narzissen im Frühling, nach dreieinhalb Wochen hat sich ihre Menge verfünffacht, so zeigen es die Messgeräte der Polarstern, so sieht es Victor Smetacek, als er im Schiffsbauch durch das Mikroskop auf die Wasserproben schaut. Die Wüste lebt, das Meer blüht.

Zwölf Jahre später, im Herbst 2016, sitzt Victor Smetacek im Arbeitszimmer seines Hauses in Bremerhaven und erzählt, weshalb seine Forschungsfahrt ein großer Erfolg und dennoch der Anfang einer Niederlage war. Er ist jetzt 70 Jahre alt und längst in Pension, aber er liebt die Natur seit seiner Kindheit, das Leben von Tieren und Pflanzen begeistert ihn, daran hat sich nichts geändert. In seinem Garten, der so groß ist wie ein kleiner Wald, zieht Smetacek 20 verschiedene Bambusarten, auf der Festplatte seines Computers verwahrt er Hunderte Aufnahmen winziger Lebewesen, Bilder von Ruderfußkrebsen sind darunter und natürlich Fotos von Kieselalgen.

Smetacek fand damals nicht nur heraus, dass das Eisen die Algen in großer Zahl wachsen ließ, er stellte auch fest, dass die ausgewachsenen und abgestorbenen Algen auf den Meeresboden absanken. Das aufgenommene Kohlendioxid nahmen sie mit. Es war wie bei der Versteinerungsmaschine in Island, das CO2 war auf einmal an einem Ort verstaut, wo es keinen Schaden anrichtet.

Natürlich war damit noch nicht bewiesen, dass das Düngen der Meere den Klimawandel bremsen kann. Andere Studien hatten andere Ergebnisse geliefert, weitere Messungen waren nötig. Doch als Smetacek im Jahr 2009 erneut mit der Polarstern aufbricht, entzündet sich ein Streit zwischen dem Bundesforschungsministerium, das für das Experiment plädiert, und dem Bundesumweltministerium, das dagegen ist. Nach drei Wochen der Unklarheit darf Smetacek seinen Versuch zu Ende führen, aber nicht am geplanten Ort, sondern weiter nördlich, wo es kaum Kieselsäure im Wasser gibt und daher auch keine Kieselalgen.

Inzwischen ist die großflächige Düngung der Ozeane im Rahmen eines internationalen Vertrages zum Schutz der Meere sogar völkerrechtlich verboten worden. Naturschützer haben die Entscheidung begrüßt. Sie fürchten, das Ökosystem Ozean könne ins Ungleichgewicht geraten, wenn in den Meereswüsten auf einmal Algen wachsen.

Man kann das so sehen. Allerdings muss man an dieser Stelle eine weitere bedeutsame Erfindung der Menschheitsgeschichte erwähnen: das Haber-Bosch-Verfahren. Die deutschen Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch fanden Anfang des 20. Jahrhunderts einen Weg, den in der Luft enthaltenen Stickstoff in Ammoniak umzuwandeln. Das Verfahren, ursprünglich dazu genutzt, Sprengstoff herzustellen, taugt auch für eine friedliche Anwendung: die Produktion von Stickstoffdünger.

Heute bringen die Bauern der Welt jedes Jahr 100 Millionen Tonnen solchen Düngers auf ihren Äckern aus. Auch dies ist ein massiver Eingriff in das Ökosystem. Die kultivierte, gedüngte Erde aber ist eine Realität, an die sich der Mensch längst gewöhnt hat. Warum sollte er nicht auch das Meer düngen?

Weil dann der Anreiz sinkt, die CO2-Emissionen zu senken! Weil die Menschheit dann womöglich immer so weitermacht! So lautet ein zweites Argument von Naturschützern. Auch dies ist eine Meinung, die man vertreten kann. Sie läuft darauf hinaus, dass es beim Kampf gegen den Klimawandel darum geht, die Welt von der Notwendigkeit des Verzichts zu überzeugen.

Dieser Konflikt zwischen Öko-Aktivisten und Ingenieuren ist in Wahrheit ein Streit zwischen Idealisten und Pragmatikern. Die Idealisten sagen: Wir müssen den modernen westlichen Lebensstil überwinden und zurückfinden in eine Welt, die mit weniger Komfort auskommt.

Die Pragmatiker entgegnen: Verzicht lässt sich nicht befehlen. Wir können nicht darauf hoffen, dass die Menschen bereit sind, ein autofreies Leben zu führen.

Auch an diesem Morgen ist Adrian Corless im Westen Kanadas mit seinem schwarzen Nissan-Infiniti-Sportwagen 60 Kilometer zur Arbeit gefahren. »Wenn uns dieses Projekt gelingt«, sagt Corless, »kann ich in Zukunft immer in dieses Auto steigen, ohne schlechtes Gewissen.«

Lärm. Höllischer Lärm. Das ist das erste, was man wahrnimmt von Corless´ Maschine, die am Rande des Meeres und am Rande der Berge steht, in einem Fjord nördlich von Vancouver an der kanadischen Westküste. Der Lärm kommt von einem riesigen Propeller, der auf dem Dach eines Metallkastens rotiert. Der Propeller saugt Luft an, hinein in diesen Kasten.

Sekunden später strömt die Luft an den Seitenwänden wieder hinaus. Sie ist nicht sauberer oder frischer als zuvor, jedenfalls nicht so, dass man es sehen oder riechen könnte. Kohlendioxid hat keine Farbe, keinen Geruch, es ist einfach da.

Wenn die Luft den Kasten verlässt, ist es nicht mehr da.

Adrian Corless steht ein paar Meter weiter neben einem weißen Plastiksack. Er ist 50 Jahre alt und ausgestattet mit dem Optimismus eines Mannes, der an das menschlich Machbare glaubt. Corless trägt feste Schuhe und eine orangefarbene Warnweste, er greift in den Sack, holt eine Handvoll gelbweißer Krümelchen heraus und strahlt, als habe er Gold gefunden. »Sehen Sie, das haben wir hier produziert«.

Der Ingenieur Corless arbeitete früher bei einer Firma, die Brennstoffzellen herstellte, seit drei Jahren aber ist er der Chef von Carbon Engineering, dem Unternehmen, das diese kleine Fabrik am Fjord betreibt. Carbon Engineering holt Kohlendioxid aus der Atmosphäre.

In dem Moment, in dem der Propeller die Luft einsaugt, enthält sie noch CO2-Moleküle. Chemikalien im Inneren des Metallkastens fangen die Moleküle ein und binden sie an sich, in einem Reaktor wird das Gemisch dann aufbereitet, verfestigt und in die Krümelchen in Corless Plastiksack verarbeitet.

CO2-Sauger: Die Fabrik von Carbon Engineering in Squamish, nördlich von Vancouver

Die Fabrik basiert auf dem Ansatz eines in den USA lehrenden deutschen Physikers. Schon vor Jahren hatte dieser die Idee, riesige, bis zu 60 Meter hohe Gebilde aus Stahl und Chemie in die Natur zu stellen: Unten eine lange Stange, wie ein Stamm, oben Metallstreben und Membranen, wie Äste, so ragen sie in den Wind. Künstliche Bäume nannte er seine Konstruktionen, weil sie wie ihre natürlichen Vorbilder in der Lage sind, CO2 aus der Luft zu filtern.

Die Firma Carbon Engineering hat das Konzept weiter entwickelt. Statt darauf zu warten, dass die Luft von selbst durch die Maschine strömt, saugt der Propeller sie an. So wird mehr Luft in weniger Zeit vom CO2 gereinigt. Vor allem aber hat Carbon Engineering die Bedeutung des Kohlendioxids neu definiert. Es ist gar kein unsichtbarer Müll, den es an möglichst entfernten Orten abzulagern gilt. Es ist wertvolles Material, das man weiterverarbeiten kann zu dem begehrtesten Produkt der Welt: Treibstoff.

Mitte des vergangenen Jahrhunderts gab es 50 Millionen Autos auf der Welt. Heute ist es mehr als eine Milliarde. Dazu kommen Motorräder, Containerschiffe, Kreuzfahrtschiffe, Öltanker, Jumbo Jets, Sportflugzeuge und Diesellokomotiven. Die Menschheit fährt, fliegt und schwimmt mit Öl.

Einst gab es Techniker, die darauf hofften, man könne Solarmobile bauen und Autos mit Sonne betanken. Heute stellen fast alle Automobilhersteller in ihren Verkaufsräumen auch Elektrofahrzeuge aus. Meistens bleiben sie dort stehen, sie verkaufen sich schlecht. Die Reichweite ist zu niedrig, die Batterie zu schwer, das Öl-Auto ist praktischer.
Und das Elektrocontainerschiff? Das Elektroflugzeug? Die existieren noch nicht einmal. Was es aber bald geben könnte, ist – der CO2-Dieselkraftstoff.

Denn das ist die Geschäftsidee, für die Adrian Corless arbeitet: Die kleinen Krümelchen, die er in der Hand hält weiterverarbeiten in synthetischen Diesel. Hört sich verrückt an, ist technisch aber kein großes Problem. In jedem Schritt von der CO2-Abscheidung bis zur Dieselerzeugung setzen die Ingenieure Verfahren ein, die für andere Zwecke seit Jahren genutzt werden. Nur die Kombination ist neu, im kommenden Jahr soll es losgehen. 100 Millionen Dollar, sagt Corless, werde die neue erweiterte Fabrik kosten. Viel Geld, aber Geld ist nicht das Problem von Carbon Engineering. Einer der beiden Hauptanteilseigner des Unternehmens ist der Mulitmilliardär und Microsoft-Gründer Bill Gates.

Gebundenes CO2, vulgo Kalk: Aus diesen Krümeln will Adrian Corless sauberen Diesel machen

Autos, Flugzeuge, Schiffe blasen CO2 in die Luft – Unternehmen wie Carbon Engineering holen es wieder heraus und verwandeln es in neuen Kraftstoff. Öl braucht niemand mehr. Es wäre eine neue, moderne Form des Kohlendioxidkreislaufs. Zumindest fast. Denn um CO2 in Kraftstoff zu verwandeln, braucht man Strom, sogar ziemlich viel davon. Aber Strom mit Hilfe von Wind- und Sonnenenergie klimaneutral herzustellen ist viel einfacher, als Autos, Schiffe oder Flugzeuge CO2-frei anzutreiben.

An diesem Abend wird Adrian Corless am Ufer des Fjords wieder in seinen schwarzen Nissan-Infiniti steigen und nach Hause zu seiner Familie fahren wie jeden Tag. Im Rückspiegel wird er die Berge sehen, die früher weiß waren vom Schnee, und heute grau sind vom Fels, der unter dem Schnee zum Vorschein kommt. Auch in Kanada schmelzen die Gletscher.

Es gibt einen englischen Begriff für all die technischen Ansätze, das Klima zu reparieren: Geoengineering. Gemeint ist der Versuch, wie ein Ingenieur in die geochemischen Kreisläufe der Erde einzugreifen, um die Erderwärmung zu stoppen. So komplex und vielschichtig das Klima, so unterschiedlich sind auch die Ansätze der Klima-Ingenieure.

Rund um die Welt droht die Auslöschung der Korallen, weil das Kohlendioxid die Meere saurer und wärmer macht? Auf Hawaii versuchen Biologen, Exemplare zu züchten, die dagegen resistent sind. Am Ende könnten Korallen zu Kunstwesen werden, so wie die Superkühe mit den riesigen Eutern in deutschen Ställen.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten fällt kaum noch Regen? Gerade hat einer der führenden deutschen Wetterforscher von der Regierung in Abu Dhabi anderthalb Millionen Dollar bekommen. Auftrag: ein System zu entwickeln, das Wolken vorhersagt, wenn der Himmel noch blau ist. Damit rechtzeitig Flugzeuge aufsteigen können, um per chemische »Wolkenimpfung« Niederschlag zu erzeugen. Außerdem sollen die deutschen Forscher herausfinden, ob künstliche Berge und Dünen oder Hunderte Meter hohe Wälle die Wolken an die richtigen Orte lenken könnten. Ziel: Wetter auf Bestellung, Regen als Designprodukt.

Wären Wolken nicht auch über dem Meer sinnvoll, um Sonnenlicht zu reflektieren und die Ozeane abzukühlen? An der University of Edinburgh bastelt ein Professor an Booten, auf denen vertikale Rotoren das Meerwasser nach oben in den Himmel sprühen, eine Art Wolken-Doping. Andere Forscher machen sich Gedanken darüber, ob es nicht hilfreich wäre, so viele Hausdächer und Straßen wie möglich hell anzustreichen, um noch mehr Sonnenlicht zu reflektieren.

Ja, jeder dieser Ansätze birgt die Gefahr, als Wir-haben-doch-noch-Zeit-Ausrede zu dienen, als Rechtfertigung für Regierungschefs, den schwierigen Umstieg auf erneuerbare Energien noch ein wenig aufzuschieben. Inzwischen aber gibt es kaum noch Klimaforscher, die der Meinung wären, das Zwei-Grad-Ziel sei allein durch mehr Windräder und weniger Autofahrten zu erreichen.

Jahrzehntelang hat die Umweltbewegung versucht, die Welt aufzurütteln. Sie hat ihr Fotos mit traurigen Eisbären präsentiert und Hilferufe von Menschen, die auf versinkenden Inseln leben. Vergeblich. Die CO2-Emissionen stiegen weiter und weiter. Mit der Folge, dass mittlerweile auch der Weltklimarat IPCC sogenannte negative Emissionen für fast unausweichlich hält – der Fachbegriff dafür, der Atmosphäre auf künstliche Weise Kohlendioxid zu entziehen, ob durch gedüngte Meere, künstliche Bäume oder Versteinerungsmaschinen. Anders sei das Pariser Abkommen gar nicht zu erfüllen. Selbst wenn jedes Land jetzt eine Energiewende beschlösse: Es wäre nicht genug.

Die Politiker und Delegierten, die auf Weltklimakonferenzen verhandeln, schweigen meist zu diesem Thema. Das ist bequem. Aber wenn sich die Öffentlichkeit nicht mit den Ideen der Klima-Ingenieure befassen will, wenn einer wie Victor Smetacek bei seiner Arbeit behindert wird, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es bei kleinen Eingriffen bleibt, die am Ende wenig bewirken. Dann ist es irgendwann zu spät. Dann ist vielleicht nur noch Zeit für den radikalsten, den am weitesten reichenden Umbau der Erde.

Wenn David Keith irgendwo auf der Welt einen Vortrag hält, an einer Universität oder bei einer Konferenz, kann es passieren, dass die Zuhörer hinterher zu ihm kommen und sagen: So verrückt sind Sie ja gar nicht! Keith hat sich damit abgefunden, dass man ihn für einen Spinner hält, wenn man seine Idee nur aus der Ferne kennt. Die Öffentlichkeit hat ihm eine Rolle zugewiesen, so ist das eben.

Es ist keine neue Rolle.

Spätestens seit der Erfindung der Atombombe ist der wahnsinnige Wissenschaftler eine Grundfigur der modernen Zivilisation, unzählige Male beschrieben in Romanen und Kinofilmen. Der verblendete, skrupellose Forscher. Der Professor mit dem wirren Haar und den wirren Plänen, die am Ende die Welt in den Abgrund stürzen. Er ist das Gegenbild zum Ingenieur als Weltenschöpfer, die Sündenbockfantasie einer Epoche, die sich schuldig fühlt.

Das Problem dabei liegt darin, dass man es immer erst hinterher weiß. War dieser Mann, es sind ja fast immer Männer, verrückt – oder seiner Zeit voraus? Ein Weltenschöpfer – oder ein Weltenzerstörer? Ist David Keith verblendet?

Auch an diesem Abend hält er einen Vortrag, diesmal hat er ein Heimspiel. Keith ist Professor für Angewandte Physik an der berühmtesten Universität der Welt, er arbeitet in einem prächtigen Backsteingebäude mit Säulenportal. Junge Leute trudeln herein, Erstsemester auf der Suche nach einem Hauptfach, Fortgeschrittene auf der Suche nach einem Dissertationsthema. Einige tragen Mützen und Pullover mit Aufdruck. Studentenstolz in Großbuchstaben: HARVARD.

In wenigen Monaten will David Keith ein großes Forschungsprojekt beginnen. Mit Klimawissenschaftlern und Soziologen, Ingenieuren und Juristen. Keith hat Mitarbeiter eingestellt, hat Geld eingeworben, mehrere Millionen Dollar. Jetzt braucht er nur noch schlaue Studenten, die sich für seine Idee begeistern.

Sie blicken zu ihm nach vorn, halb skeptisch, halb neugierig. Keith ist ein hagerer Mann Anfang fünfzig, Vollbart und Brille, Jeans und offenes Hemd. Er redet schnell, gehetzt fast. »Ich arbeite daran, wie man bewusst das Klima manipulieren könnte«, sagt Keith. Er drückt eine Taste auf seinem Laptop, hinter ihm an der Wand erscheint eine Illustration: die Erde, umhüllt von Wolkenmassen, darüber die Schwärze des Weltalls. Die Studenten sehen einen Ballon auf seinem Weg in die Höhe.

Das ist die Idee des Harvard-Professors David Keith: Er möchte so einen Ballon aufsteigen lassen, der 25 Kilometer über dem Erdboden chemische Substanzen freisetzt, vielleicht Schwefelsäure, vielleicht Kalziumkarbonat, vielleicht etwas ganz anderes. Zunächst nur geringe Mengen, zu Forschungszwecken. Später vielleicht eine Million Tonnen im Jahr, dafür brauchte man dann keinen Ballon, sondern eine Flugzeugflotte. Die Substanzen würden sich in kurzer Zeit um die ganze Erde verteilen. Gleichmäßig über alle Meere und Kontinente, über den Pazifik, den Südpol, das Amazonasbecken, Europa. Sie würden wie Glasscherben einen Teil des Sonnenlichts reflektieren und zurück in den Weltraum schicken. Wie unzählige winzige Spiegel, installiert, um einen überhitzten Planeten zu kühlen.

Zukunftsvision: Flugzeuge versprühen Chemikalien in der Atmosphäre, um das Klima zu retten

David Keith will einen Gegen-Klimawandel in Gang setzen. Um die Erde liegt eine Decke aus CO2, die immer dicker wird? Dann muss man eine zweite Decke konstruieren, die die Sonnenstrahlen abhält. Die eine Decke wärmt die Erde, die andere kühlt sie ab. Das ist die Hoffnung.

»Wenn ihr jetzt denkt, die Idee ist total irre, dann unterbrecht mich bitte«, sagt David Keith. Die Studenten bleiben still.

David Keith ist selber ein bisschen wie ein Spiegel, in ihm erkennt man den ganzen Streit um die Klima-Ingenieure. Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass er längst kein Außenseiter mehr ist. Die amerikanische National Academy of Sciences und andere staatliche Forschungsorganisationen sowie wichtige Umweltschutzgruppen haben sich inzwischen vorsichtig für derartige Experimente ausgesprochen. Es gibt Hunderte Forschungsarbeiten, die mithilfe von Computersimulationen die Folgen eines bewusst ausgelösten Gegen-Klimawandels zu berechnen versuchen. Vor allem aber gab es da diesen einen Tag, an dem der Pinatubo die Idee des David Keith Wirklichkeit werden ließ.

Der Pinatubo ist ein Vulkan auf den Philippinen. Jahrhundertelang dachten die Menschen, die an seinen Flanken siedelten, er sei erloschen. Bis zum Frühjahr 1991. Im April erwacht der Pinatubo, Anfang Juni erste Eruptionen, am 15. Juni der große Ausbruch: Tag, der zu Nacht wird; Ascheregen noch in der weit entfernten Hauptstadt Manila; eine mehr als 30 Kilometer aufragende Wolke, mächtig wie ein Atompilz. Schwefeldioxid schießt mit archaischer Wucht nach oben. Wird zu Schwefelsäure, gerät in Form winziger Tröpfchen in eine Umlaufbahn weit über der Erde. Dort verteilen sich die Tröpfchen rund um den Globus. Lauter kleine Spiegelsplitter. Lauter kleine Sonnenreflektoren.

Es dauerte damals nicht lange, dann wurde es kühler.

1992 sanken die Durchschnittstemperaturen um 0,5 Grad Celsius. Überall auf der Welt. Der Pinatubo zwang den Klimawandel, eine Pause einzulegen. Die Pause dauerte länger als ein Jahr. Dann hatte sich die Schwefeldecke aufgelöst, und die Temperaturkurven in den Messstationen stiegen wieder.

In Harvard hat David Keith seinen Vortrag beendet. Er hat die Studenten durch das Labor geführt, eine Wunderkammer voller optischer Instrumente, Kabel und Rohre, kleiner und großer Messgeräte, in der Keith daran herumtüftelt, die beste Substanz für seinen Feldversuch zu identifizieren. Die Studenten verabschieden sich, später werden sich einige bei Keith melden und sagen, dass sie gerne bei diesem Projekt mitarbeiten möchten. Vielleicht wird einer von ihnen in 20, 30 Jahren eine Flugzeugflotte steuern, die für die Temperaturregelung des Planeten zuständig ist.

Im Oktober war David Keith in China. Er hat mit Forscherkollegen und Funktionären gesprochen und sein Konzept vorgestellt. Keith weiß um die Risiken, er beschreibt sie in jedem Vortrag: Ein Staat könnte eigenmächtig zur Tat schreiten – die Folgen aber müssten alle Länder der Welt tragen. Vielleicht würde die Natur anders reagieren als in den Computermodellen vorhergesagt, vielleicht würde irgendwo in Asien der Monsunzyklus gestört. Wie beim Original-Klimawandel ließe auch der Gegen-Klimawandel kein Lebewesen auf der Erde unberührt. Und die Masse der reflektierenden Substanzen brauchte jährlich Nachschub. Bräche das Kühlprogramm zusammen, zum Beispiel wegen einer politischen Krise, würde die isolierende Decke mit einem Mal verschwinden. Die Erde würde einen Hitzeschock erleiden.

Deshalb reist David Keith um die Welt: Er will eine Diskussion in Gang bringen. Längst hätte er seinen Versuchsballon in die Stratosphäre senden können, aber er möchte ein internationales Forschungsprojekt, er möchte Einigkeit. So wie die Länder der Welt den Vertrag von Paris beschlossen haben, so sollen sie den Start des Gegen-Klimawandels beschließen.

Keith sagt, auch ihm wäre es am liebsten, man müsste über so etwas wie künstliche Vulkanausbrüche gar nicht erst nachdenken. Aber es existiere eben kein gefahrloser Weg in die Zukunft mehr. Es gebe nur noch die Wahl zwischen einer riskanten Überhitzung und dem ebenfalls riskanten Versuch, sie aufzuhalten. Vielleicht liegt im Einfach-Weitermachen die größere Gefahr.

Man kann es auch so sagen: Schaut man sich an, was die Menschheit bisher mit dem Klima angestellt hat, wirkt David Keith noch ziemlich vernünftig.

 

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