Um das Klima zu retten, werden Deutschlands Häuser in Styropor eingepackt - mit zweifelhaftem Nutzen. Politik, Industrie und Wissenschaft wollen es so. Den Schaden hat der Bürger
Von Matthias Oden, Claus Hecking, Hubert Beyerle und Nikolai Fichtner für CAPITAL, Februar 2013.
Hamburg - Eine Fahrt mit Albert Schett durch die Hamburger Innenstadt gleicht einer Vorlesung in Baustilkunde: „Da drüben spätes 20. Jahrhundert, dort ein armer Zwanziger, das hier ist ein Mittfünfziger mit einfacher Formensprache, und da vorn haben wir das 21. Jahrhundert.“ Immer wieder lässt die rechte Hand das Lenkrad los, um munter auf Gebäude hinzuwedeln, immer wieder reißt das durchmischte Stadtbild Schett zu Stilexegesen hin.
„Das ist eine Frage der Volksseele.“ Seit 25 Jahren lebt der städtische Denkmalschützer und Architekt in Hamburg, „der Liebe wegen“ ist er hängen geblieben, und wenn er durch seine Stadt fährt und von ihrem bunten Häuserdurcheinander redet, wird klar: Er hat noch eine zweite Liebe gefunden.
Schett ist im Nordosten angekommen, im Stadtteil Barmbek. Seine gute Stimmung ist verflogen. Er steigt aus, äugt unter seinem schwarzen Hut an Häusern empor, und die Hingabe von eben weicht spöttelnder Resignation. „Das sieht alles gleich aus“, sagt er und klopft an Fassaden, die zwar aussehen wie geziegeltes Mauerwerk. Aber keines sind.
Sie fühlen sich an wie Plastik, klingen viel zu hohl, sind viel zu symmetrisch, um tatsächlich Backstein zu sein. Schett blickt die Straße entlang: ein ums andere Haus dieselbe Fassade, Ton in Ton, wie mit dem Lineal gezogen. „Sieht aus wie Disneyland. Die Stadt verliert ihren Charakter.
Weil sie alle dämmen.“ So wie überall in Deutschland. Gerüste wachsen an Gebäuden empor, Fassaden verschwinden hinter oberschenkeldicken Styroporplatten. Straßenzug um Straßenzug. Bis 2050 soll jedes der rund 19 Millionen Häuser der Republik isoliert und klimafreundlich saniert sein, so wollen es die ehrgeizigen Pläne der Politik. Ob Rot-Gelb, Schwarz-Gelb, Rot-Grün oder Schwarz-Rot: Seit vier Jahrzehnten verschärfen Bundesregierungen aller Couleur Gesetze, Baurichtlinien und Energieeinsparverordnungen.
Daher dämmt das ganze Land auf Teufel komm raus.
Die Republik wird eingepackt. Ohne zu ahnen, worauf sie sich da einlässt.
Energiesparen, weniger CO2, mehr Umwelt - auf dieses Ziel können sich alle einigen. Schnell soll es gehen, billig muss es sein, und weil nirgendwo so viel Energie verbraucht und verschwendet wird wie im Wohnbereich, ist die Stoßrichtung klar: Im deutschen Reihenhaus soll das Weltklima gerettet werden.
Und das geht am besten mit Styropor.
Oder? Deswegen fördert der Bund großzügig die Schaumstoffaufrüstung, deswegen baut die Industrie ihre Produktionskapazitäten aus, deswegen werden die Hauswände dicker und die Fensterbretter breiter. Es dient ja der guten Sache.
Oder?
Die Wahrheit sieht anders aus. Nach Jahren ungehemmten Dämmens zeigen sich mehr und mehr die Schwachstellen des vermeintlichen Klimaretters Nummer eins. Es ist nicht nur die optische Gleichschaltung, die Denkmalschützer Schett beklagt, wenn er durch Hamburgs Wohnviertel zieht. Das Material selbst stellt sich als Problem heraus. Ganze Fassaden schimmeln durch, werden von Algen überwuchert, von Spechten bevölkert - und müssen teuer gewartet werden.
Die opulenten Einsparversprechen der sogenannten Wärmedämmverbundsysteme (WDVS) erweisen sich als Luftnummern, die Amortisierungsraten als Schönwetterprognosen. Feuerwehren orakeln von erhöhter Brandgefahr, Verbraucherschützer von Umweltgiften, die Entsorgung ist ein Albtraum.
Das Allheilmittel entpuppt sich als Droge. Nur scheint das kaum jemanden wirklich zu stören. Der Dämmrausch hält unvermindert an, mancherorts werden bereits die Gerüste knapp.
Wie konnte es nur so weit kommen?
Die Antwort ergibt sich aus einer Mischung von gutem Willen und gefährlichem Halbwissen, aus wirtschaftlichen Sachzwängen und zu kurz gedachten Adhoc- Lösungen, aus den Absurditäten des deutschen Fördersystems und einer Politik, die sich von Interessenverbänden hat in Geiselhaft nehmen lassen. Die Industrie, das Handwerk, die Wissenschaft - alle mischen sie mit beim großen „Monopoly“: der energetischen Sanierung Deutschlands.
„Göttern muss geopfert werden“, sagt Schett. „Und dem Gott der Energie wird viel geopfert, jeden Tag.“ Schöne alte Fassaden. Und der gesunde Menschenverstand.
Alles fängt 1973 an, in der ersten Ölkrise.
Weil im Nahen Osten Krieg herrscht, verwaisen in der Bundesrepublik sonntags die Autobahnen, wird Kurzarbeit eingeführt, um Jobs zu retten.
Aber all das hilft nicht: Öl ist knapp und teuer, Firmen gehen pleite, die Arbeitslosigkeit steigt, die Produktivität sinkt. Und den Deutschen dämmert, wie gefährlich ein hoher Energieverbrauch ist, wenn man die Rohstoffe von anderen kaufen muss.
Drei Jahre dauert es, bis der Bundestag das Gesetz zur Einsparung von Energie in Gebäuden verabschiedet. Es ermächtigt die Regierung, „Anforderungen an den Wärmeschutz von Gebäuden und ihren Bauteilen festzusetzen“. Wieder und wieder wird das Gesetz über die Jahre verschärft, am 6. Februar 2013 verabschiedet die Bundesregierung den jüngsten Entwurf der Energieeinsparverordnung.
Der setzt noch mehr auf Sanierung, erzwingt die Angabe von energetischen Werten in Immobilienanzeigen voraussichtlich ab 2014 - und fordert für Neubauten die Senkung des Wärmeverlusts durch die Gebäudehülle um zehn Prozent.
Das heißt: noch mehr Dämmung, noch mehr Styropor.
Dabei ist das Geschäft schon jetzt gigantisch.
840 Millionen Quadratmeter Platten sind bislang laut Fachverband Wärmedämm-Verbundsysteme an deutsche Häuser gepappt worden. Das entspricht annähernd der Fläche des Bundeslands Berlin. 2011, neuere Zahlen gibt es nicht, klebte und bohrte die Branche 42,5 Millionen Quadratmeter auf Fassaden - gut ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Rund 75 Prozent davon sind aus Styropor.
Und wenn das von der Politik ausgegebene Ziel erreicht werden soll, den CO2-Ausstoß von Wohnhäusern bis 2050 um 80 Prozent zu senken, muss das Sanierungstempo noch mal massiv beschleunigt werden. Dann müssen zwei Prozent aller Häuser jedes Jahr isoliert werden. Derzeit sind es knapp ein Prozent.
Was bereits heute aussieht wie eine Dämmorgie, ist womöglich nur der Anfang.
1. Der größte Profiteur ist nicht die Umwelt, sondern die Chemie
Auf dem größten zusammenhängenden Chemieareal der Welt drängen sich Silotürme neben Tanks und Kesseln, ragen Schlote in die Luft. Es ist eng hier in Ludwigshafen, dem Stammsitz von BASF, alles ist dicht bebaut, Fabrikanlage reiht sich an Fabrikanlage. Und doch klaffen immer wieder unbebaute Flächen in der Industrielandschaft, zugestellt mit meterhohen Stapeln grün verpackter Schaumstoffplatten.
Wie viele Kubikmeter auf ihre Verwendung warten, ist Betriebsgeheimnis, klar ist nur: Es müssen Tausende sein. Und jeden Tag werden es mehr.
Erst im vergangenen Jahr hat der Chemiegigant seine Dämmstofffabrik ausgebaut, die Produktion läuft 24 Stunden am Tag. Was in der Haupthalle von den Maschinen ausgespuckt wird, sieht aus wie ein endloser, sehr dicker und sehr grüner Pizzaboden, der träge auf dem Förderband voranzuckelt, um schließlich zerschnitten zu werden. Vor 45 Jahren entwickelte BASF den Polystyrol- Hartschaumstoff Styrodur, seitdem hat sich an der Fertigung nichts Wesentliches geändert: Styrol, eine dünnflüssige, süßlich riechende Flüssigkeit wird polymerisiert.
Dabei entsteht ein kugelförmiges Granulat, das bei etwa 90 Grad mithilfe von Wasserdampf auf das 20- bis 100-Fache des ursprünglichen Volumens aufgeschäumt wird. Anschließend backt ein Ofen die Kügelchen unter Druck zusammen - fertig.
Der Herr über dieses Reich ist Jürgen Fischer, ein 63-Jähriger mit Schnauzer, der bereits seit 20 Jahren in Schaumstoff macht. „Im Prinzip ist Styropor verpackte Luft“, sagt er. Wie hoch die Margen im Luftverpackungsgeschäft sind, will er nicht sagen - „bei Weitem nicht so hoch wie im Pharmabereich“.
Die Schaumstoffe haben einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Alternativen: Sie sind billig.
Ein Quadratmeter eines Polystyrol- WDVS kostet ungefähr 125 Euro netto, Mineralwolleplatten liegen bei 150 Euro, Mineralschäume etwa bei 200 Euro. Und deshalb verkauft sich Styropor wie geschnitten Brot.
Goldgräberstimmung hat die Branche erfasst. Die Sto-Gruppe aus Baden-Württemberg, einer der großen Player im Markt, hat 2010 ein neues Styroporwerk eröffnet. „Beim künftigen Absatz von Sto-Produkten sind derzeit keine signifikanten Risiken zu erwarten“, heißt es dazu im Geschäftsbericht 2011. „Allein das im Inland vorhandene Potenzial für Fassadensysteme ist aufgrund des umfangreichen Bestands an älteren Gebäuden sehr groß.“ Bislang ging die Rechnung auf, 2012 hat Sto seinen Aktionären eine Rekorddividende bezahlt. Dieses Jahr sollen Profit und Ausschüttung weiter steigen.
2. Der günstige Preis für Schaumstoff: nur die halbe Wahrheit
Für die Unternehmen ist Styropor eine sichere Bank. Nicht aber für die Bauherren.
Die Platten mögen im Einkauf billig sein. Doch bei diesen Kosten bleibt es oftmals nicht. Denn die Platten sind extrem empfindlich.
Einer, der davon viele Geschichten erzählen kann, ist Gernot Henrich, Chef des Bochumer Instituts für angewandte Baudiagnostik. Seit 40 Jahren ist er Sachverständiger für Bauschäden, er hat den Aufstieg der WDVS von Anfang an miterlebt - und alle Arten von Schäden gesehen, die diese Systeme an sich ziehen.
„Schon wenn ein kleiner Junge mal einen Stein dagegen schmeißt, können Risse entstehen“, sagt er.
Die Anfälligkeit der Schaumstoffplatten ist in Architektenkreisen mittlerweile berüchtigt. „Wenn so ein System optimistisch 30 Jahre hält, aber ein Haus 100 Jahre, macht das WDVS keinen Sinn“, sagt der Frankfurter Stararchitekt Christoph Mäckler, Chef des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst an der Technischen Universität Dortmund. Vor allem, wenn die Nachrüstung eines Hauses im Schnitt 18 000 Euro kostet - und sich nach optimistischer Kalkulation erst nach 20 Jahren amortisiert. „Kurzfristig bekommt der Bauherr bei Polystyrol mehr für weniger Geld“, sagt Hans-Hermann Neumann, Sachverständiger und Autor des Branchen-Standardwerks „Wärmedämm-Verbundsysteme“. „Nur was nützt es, wenn ein WDVS viel früher kaputtgeht, wenn die Wartungszyklen viel kürzer sind als geplant?“ BASF weist diese Vorwürfe zurück.
„Bei unfachmännisch sanierten Altbauten kann es unter Umständen zu Wartungsbedarf kommen, aber Styropor ist darauf angelegt, so lange zu halten wie ein Haus“, sagt Jürgen Fischer. In der Theorie stimmt das auch.
Die Praxis indes sieht oft anders aus:
Mal nisten sich in den weichen WDVS-Fassaden Mäuse ein, mal Spechte, mal sorgt die Witterung für Risse in der schützenden Außenschicht. So oder so ist die Fassade dann undicht, anfällig für Wasserschäden, Schimmel, Wärmeverlust.
Nach Angaben des Fraunhofer-Informationszentrums Raum und Bau liegt die schadenfreie Lebensdauer von Styropor- WDVS im Schnitt bei nur 22 Jahren.
Und wie oft hat Henrich schon wärmegedämmte Gebäude begutachtet, deren Außenwände sich bereits nach wenigen Monaten grün verfärbten. Fritschiella heißt die Übeltäterin - eine Grünalge, die auf den Kunststofffassaden ideale Lebensbedingungen vorfindet. Gerade Nordwände, die kaum von Sonne beschienen werden, sind oft feucht und kühl, beste Voraussetzungen für die Alge, sich rasant zu vermehren. Gleiches gelte für Schimmel, den der Sachverständige immer wieder hinter den Platten oder an Anschlusspunkten, Übergängen und Verklebungsstellen entdeckt.
Viele Styropor-WDVS werden daher mittlerweile mit Algiziden und Fungiziden getränkt. Die Mittel waschen sich mit der Zeit aus, gelangen ins Grundwasser.
Welchen Schaden sie dort anrichten, ist noch weitgehend unerforscht.
Mit Besorgnis sieht Henrich den Trend zu immer dickeren Dämmplatten.
Lag die durchschnittliche Stärke 1997 noch bei 7,2 Zentimetern, waren es 15 Jahre später schon 12,5 Zentimeter.
„Je dicker der Dämmstoff ist, desto größer ist das Risiko, dass die Fassade veralgt“, sagt Henrich.
Die zusätzlichen Zentimeter machen die Fassade nicht nur anfälliger, sie nützen auch kaum etwas. „Mehr als zehn bis zwölf Zentimeter Dicke sind vom Wirkungsgrad her gleich null: weder sinnvoll noch nachhaltig. Sondern nur Profit für BASF und Konsorten“, ärgert er sich. Ab dieser Marke sei die zusätzliche Einsparung allenfalls marginal.
Warum also wächst die Stärke der Platten beinahe von Jahr zu Jahr? „Ganz einfach“, sagt der Sachverständige. „Die Lobby drängt die Politik zu immer höheren Werten. Die Politiker finden das chic, es lässt sich als umweltfreundlich oder zukunftsträchtig verkaufen. Und die Hausbesitzer nehmen dann halt das Billigste:
Styropor.“ So schließt sich der Kreis.
3. Der ökologische Nutzen? Viel kleiner als behauptet
Albert Schett ist weiter in den Hamburger Norden gefahren, nach Dulsberg. Wieder steht er vor einer zugepappten Hausfront.
Seine Denkmalschutzbehörde hat die Dämmung betreut, Schett kennt das Objekt: „Nicht mal zwei Jahre nach der Montage gab es die ersten Risse.“ Seitdem ist der Wohnblock ein Sorgenkind.
Schett seufzt. „Wenn es denn wenigstens was brächte.“ All die teuren Wartungen, die Algen und Spechte würde er ja vielleicht noch hinnehmen, als Kollateralkosten, wenn das Ganze wenigstens der Umwelt helfen würde. Genau das jedoch wird von immer mehr Fachleuten angezweifelt.
Bis zu 70 Prozent weniger Wärmeverlust verspricht die Dämmlobby schon mal, eine Zahl, die viele Tücken birgt. Zunächst einmal beziffert sie nicht 70 Prozent aller Wärmeverluste, die in einem Haus anfallen - sondern lediglich jene, an denen die Wände schuld sind. Durch die aber geht höchstens ein Viertel der Heizenergie verloren, der Rest entweicht über Fenster, Dächer, Türen und den Boden.
Will heißen: Der wirkliche Einspareffekt liegt deutlich unterhalb von 20 Prozent.
Dieser Wert schrumpft in der Endbetrachtung sogar noch weiter. Für jedes produzierte Kilo Styropor gehen etwa fünf Kilo Erdöl drauf. Auch die Verarbeitung frisst große Mengen Energie. BASF-Fachmann Fischer hat berechnet, dass die bei der Produktion eingesetzte Energie im Schnitt nach einem Jahr bereits wieder eingespart ist. Die CO2-Kosten, die bei der Montage anfallen, sind da allerdings nicht mit eingerechnet. Die für den Transport ebenfalls nicht. Und die haben es in sich.
Styropor hat als Erdölprodukt einen Brennwert von beinahe 100 Prozent. Die in den Platten enthaltene Energie muss, so will es der Gesetzgeber, bei der Entsorgung genutzt werden. Die Platten dürfen also nicht auf den Müll, sie müssen verbrannt werden.
Das Problem: Sie lassen sich nicht einfach vom Rest des Dämmsystems trennen: Da ist Folie dran, da sind Kleber, Treibmittel und Fungizide drin, und Putz klebt obendrauf. Deshalb benötigt man für das Entsorgen von Dämmplatten spezielle Verbrennungsanlagen - und die liegen in aller Regel Hunderte von Kilometern von jenem Ort entfernt, an dem der Müll anfällt.
„Das bedeutet noch einmal hohe Transportemissionen“, sagt Bernhard Kolb, Autor des Buchs „Nachhaltiges Bauen in der Praxis“. Und weil Styropor extrem voluminös ist, sei „ein Lkw in null Komma nix voll mit dem Zeug“. Früher oder später also, wenn Deutschlands Styroporfassaden ans Ende ihrer Lebensdauer gekommen sind und runtergerissen werden müssen, werden sich Kolonnen von Lastern in Bewegung setzen und tonnenweise Bauschutt quer durch die ganze Republik karren. Im Zeichen des Umweltschutzes.
Und selbst damit sind die Nachteile von Styropor noch lange nicht vollständig aufgezählt. Das gepresste Erdöl an den Wänden ist nicht nur langfristig teuer und umweltpolitisch fragwürdig. Es kann auch ziemlich gefährlich sein.
4. In Deutschland bauen sie jetzt Scheiterhaufen
Die Frankfurter Adickesallee am 29. Mai 2012: Dicker schwarzer Rauch steigt in den Frühlingshimmel. Auf der Baustelle eines Apartmenthauses gegenüber vom Polizeipräsidium ist ein kleines Feuer ausgebrochen, einige auf dem Gelände lagernde Styropor-Dämmstoffplatten haben sich entzündet. Nichts Ungewöhnliches, das Feuer ist überschaubar. Eigentlich.
Plötzlich brennt das gesamte Gebäude lichterloh, die Fassade steht in Flammen, der Beton der Tragekonstruktion platzt ab, aus dem Brand wird ein Inferno.
80 Einsatzkräfte rücken an, nur mit Mühe gelingt es ihnen, die Feuersbrunst in den Griff zu bekommen. So stark lodern die Flammen, so groß ist die Hitze, dass die Polizei die komplette Ausfallstraße sperren lassen muss, stundenlang. Zurück bleiben ein verkohltes schwarzes Betongerippe, ein verformtes Metallgerüst und ein verstörter Feuerwehrchef.
Die Fassade des Hauses war in Styropor eingepackt; Reinhard Ries, der Frankfurter Branddirektor, sieht in dem Material einen „Brandbeschleuniger“, der „unheimlich hohe Temperaturen“ verursacht habe. Hat Styropor einmal Feuer gefangen, so setzt es eine enorme Hitze und giftige Gase frei. Das sei dann wie ein „flüssiger, brennender See“, so Ries, als hätte man mehrere Tausend Liter Benzin oder Mineralöl entzündet.
Er hält es für dringend geboten, den Dämmstoff „sofort zu überprüfen“.
So lange müsse das weitere Verbauen von Styropor gestoppt werden. Ries misstraut dem Material, seit er mit einer internationalen Kommission 1996 das Großfeuer am Flughafen Düsseldorf untersuchte.
Auch dieses Inferno, so das Ergebnis der Experten, sei durch brennendes Styropor ausgelöst worden.
Laut Statistik häufen sich die Brände an styroporgedämmten Gebäuden. Allein in Frankfurt war das Feuer in der Adickesallee der dritte derartige Vorfall innerhalb weniger Monate; seit Anfang 2011 musste die Feuerwehr bundesweit mindestens ein Dutzend Mal wegen Styroporfassaden- Bränden ausrücken. Besondere Schlagzeilen machte das Großfeuer im niedersächsischen Delmenhorst, wo im Juni 2011 fünf Mehrfamilienhäuser gleichzeitig in Flammen standen.
Journalisten des NDR haben im März vergangenen Jahres Styropor-WDVS in der Materialprüfanstalt Braunschweig einem Test unterzogen. Die Aufsicht führende Feuerwehr brach den Versuch nach wenigen Minuten ab. Sie fürchtete, die Kontrolle über den Brand zu verlieren.
„Das Material ist schwer entflammbar“, sagt BASF-Mann Fischer und verweist auf die Brandschutzmittel, die den Dämmplatten zugesetzt werden. „Sobald ringsum das Feuer erlischt, geht auch das WDVS aus.“ Mag sein, aber wie realistisch ist ein solches Szenario?
Die Politik sieht trotz der Gefahren keinen Handlungsbedarf. Erst im Spätsommer 2012 nahm sich die Bauministerkonferenz des Themas an. Und kam zu dem Schluss: Der Brandschutz muss nicht verschärft werden.
Dass ausgerechnet die Lobbyisten vom Fachverband Wärmedämm-Verbundsysteme dieses Fazit zwei Wochen vor der Ministerkonferenz kannten, lässt ungute Rückschlüsse zu. „Das Ergebnis der August-Sitzung der Fachkommission Bauaufsicht ist für uns alle positiv“, heißt es in einem Rundschreiben des Verbands, das laut NDR-Recherche schon vor Bekanntgabe des Beschlusses kursierte.
Die Politik, so hat es den Anschein, hört nur, was sie hören will. Denn sie ist in dem Spiel der Spieler mit dem höchsten Einsatz.
5. Die KfW - der Dämmmeister der Nation
Natürlich zwingt die Regierung niemanden, Styropor an sein Haus zu kleben.
Aber sie bestimmt die Rahmenbedingungen, die dann den Boom auslösen. Welche Häuser nach welchen Standards saniert werden, darüber entscheiden Banker im Auftrag der Politik. Sie sitzen am Berliner Gendarmenmarkt, in den Büros der staatseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau.
Markus Schönborn und seine Kollegen haben diese Regeln gemacht. Sie tragen solch lyrische Namen wie KfW 70, KfW 55 und so weiter. Wer sich um einen vergünstigten Kredit oder einen Tilgungszuschuss bewirbt, muss sich an die Vorgaben halten, die Schönborns Leute immer wieder neu entwickeln. Mehr als 9 Mrd. Euro hat die KfW 2012 für ihre Sanierungsprogramme im Land verteilt.
Mehr als die Hälfte aller Neubauten orientieren sich schon an diesen Standards.
„Ein Riesenerfolg“, findet Schönborn.
Früher mussten Bauherren fest definierte Maßnahmenpakete umsetzen, um den begehrten Zuschuss zu bekommen - ein bestimmtes Fenster, ein bestimmter Heizkessel. Das aktuelle Verfahren ist da schon deutlich weniger bürokratisch, es gibt nur noch zwei Faktoren: Der Energieverbrauch des Gebäudes muss deutlich sinken, und der Wärmeverlust durch die Gebäudehülle darf einen bestimmten Grenzwert nicht überschreiten.
Genau dieser zweite Faktor allerdings lässt Architekten deutschlandweit verzweifeln. Wer eine effiziente Heizung einbaut oder erneuerbare Wärme aus der Sonne oder dem Erdreich bezieht, der kann seinen Energieverbrauch auch ohne dicke Schaumstoffschichten senken.
Warum dann noch der Zwang zum Dämmen?
„Wir haben das lange diskutiert“, sagt Schönborn. Und dann doch die Dämmvorgabe beschlossen. „Man muss beides tun, Dämmen und Technik.“ Deswegen fördert die KfW in Deutschlands Häusern nicht nur innovative, grüne Technologien.
Sondern auch das umstrittene Styropor, einen Uralt-Erdölrohstoff. Der vom Staat ohnehin schon begünstigt wird.
Zum einen ist die stromintensive chemische Industrie von der Ökostromumlage des Erneuerbare-Energien-Gesetzes befreit - und kann so die Kosten für ihr Produkt niedrig halten. Zum anderen genießt Styropor als sogenanntes stoffliches Erdölprodukt Steuervergünstigungen, die andere, umweltfreundlichere Materialien nicht erhalten. Seit November 2012 fordern die Grünen, die Konkurrenzprodukte förderungspolitisch mit Styropor gleichzustellen. Getan hat sich nichts.
„Wir wollen nicht gegen den Markt fördern“, sagt Schönborn. „Je günstiger man die Ziele erreichen kann, desto besser.“ Natürlich kennt auch er das Unbehagen, das viele Experten inzwischen bei Styropor haben. Aber was soll er tun?
„Wir können unsere Programme nicht mit Kriterien überfrachten“, sagt er.
Aber könnte man sie nicht einfach ändern?
6. Der schmutzige Trick mit dem Sanierungsstau
Harald Simons steht am Fenster, ein alter Doppelrahmen aus der Nachkriegszeit mit geschwungenen Messinggriffen.
„Warum sollten wir die alten Fenster rausreißen?“, fragt er. „Die sind noch besser in Schuss, als es 80er-Jahre- Isolierglasfenster heute wären.
Man könnte sie vielleicht mal wieder streichen.“ Simons blickt aus dem vierten Stock eines stattlichen Gründerzeitbaus mit Jugendstilfassade am Berliner Kurfürstendamm, wenige Meter von der Gedächtniskirche entfernt. Der 44-Jährige ist Wirtschaftsprofessor und Vorstandsmitglied von Empirica, einem Institut, das vor allem Trends von Mieten und Quadratmeterpreisen berechnet.
Er hat sich Feinde gemacht, viele Feinde, weil er das, was da draußen im Land passiert, als ein abgekartetes Spiel bezeichnet.
Die Politik sei in eine „argumentative Falle getappt“, sagt Simons. Sie schreibe vor, dass die energetische Sanierung wirtschaftlich vertretbar sein muss. Das ist sie aber nur unter einer einzigen Bedingung: wenn selbst genutzte Einfamilienhäuser ohnehin instand gesetzt werden müssen. Zu diesem Ergebnis kam die von der Bundesregierung selbst gegründete Deutsche Energie-Agentur (DENA).
Die Industrie sieht das ähnlich: „Der Staat muss die Sanierung fördern, sonst rechnet sich das in vielen Fällen nicht“, sagt BASF-Mann Jürgen Fischer.
Damit die Politik ihren schönen Plan nicht aufgeben muss, greift sie laut Simons zu einem schmutzigen Trick: „Es muss ein allgemeiner Sanierungsstau in Deutschland behauptet werden.“ So wie das etwa Klaus-Dieter Clausnitzer macht, der Chef des Bremer Energie Instituts: „Einen Sanierungsstau in Bezug auf heutige Anforderungen zu leugnen ist schon erstaunlich.“ Er vergleicht die Situation mit einem Auto, dessen Reifen noch einen Millimeter Profil haben. Klar könne man damit noch fahren! Nur welcher anständige deutsche Fahrzeughalter tut das schon?
Der Vergleich hinkt. Denn wer durch Deutschland fährt, sieht einen Hausbestand in sehr gutem Zustand.
„Die Berechnungen zur Wirtschaftlichkeit der energetischen Sanierung werden an allen Ecken und Enden hingedreht“, sagt Simons.
Die Dämmstoff- und Heizkesselindustrie hat den streitbaren Institutschef mittlerweile zu ihrem Hauptfeind auserkoren. Er bekommt Klagedrohungen, in seinen Vorträgen wird er von gut vorbereiteten Spezialisten mit Detailfragen gelöchert, bis der Auftritt völlig zerfasert ist. Sein größtes Ärgernis ist das freilich nicht.
7. Ein Geniestreich namens DIN V 18599
Das nämlich trägt den Namen DIN V 18599. Die Norm ist das neue Schlüsselwerk der Energiesanierer, ihr Totschlagargument, ihre Bibel. Auf 1000 Seiten legt sie fest, wie der Energieverbrauch eines Hauses auszusehen hat. Die Norm steckt voller Simulations- und Rechenverfahren, jedes kleinste Detail wird definiert und geregelt. So komplex ist die Vorschrift, dass kein Laie sie verstehen, geschweige denn anwenden kann: DIN V 18599 ist nur noch mit spezieller Software zu bewältigen.
Energieberater haben mit der Norm täglich zu tun. Sie sind die Fachleute, die Hauseigentümer rufen, wenn sie bei Sanierungen Entscheidungshilfe brauchen.
Die Berater müssen für ihre Qualifikation viel Geld bezahlen. Software und Schulung kosten bis zu 10 000 Euro. Die Software des Marktführers wird von 25 000 Beratern genutzt, die erst einmal in einer hauseigenen Akademie ausgebildet werden müssen, um das Ganze zu verstehen. Und so wird die Gretchenfrage der energetischen Sanierung (soll ich dämmen, soll ich nicht?) zum Herrschaftswissen einer kleinen, bürokratienahen Kaste.
Die Software verschafft dem Energieberater Autorität, seine Analysen scheinen objektiv und wissenschaftlich. Besonders fragwürdig wird es, wenn der Fachmann Wirtschaftlichkeitsberechnungen mit anbietet, die eine vermeintlich objektive Antwort darauf geben, ob sich eine Investition lohnt oder nicht.
Tatsächlich sind solche Zahlenspielchen kaum mehr als Kaffeesatzleserei.
Denn der Clou an der Wunderwaffe DIN V 18599 ist: Sie ermittelt einen unrealistisch hohen Energiebedarf - und überzeichnet damit die möglichen Einsparungen.
„Eine Berechnung von Wohngebäuden auf der Basis von DIN V 18599 führt nach den Untersuchungen dieses Beitrags, weiteren aktuellen Studien und den praktischen Erfahrungen des Autors im Regelfall zu einem signifikant höheren Primär- und Endenergiebedarf im Vergleich zur alten Berechnungsnorm“, schreibt Professor Stefan Himburg von der Beuth Hochschule Berlin in einem Aufsatz. Wo angeblich viel verbraucht wird, kann natürlich auch viel gespart werden. Auf dem Papier rechnet sich dann eine Sanierung fast immer.
Die Norm wird auch deshalb so wichtig, weil auf ihr die im Februar novellierte Energiesparverordnung aufbaut.
Pikant: Im zuständigen Normausschuss sitzen alle Industrien, die von der Dämmschlacht in Deutschland profitieren.
Der Hauptverband der Bauindustrie hat den Vorsitz, zudem mit dabei sind der Zentralverband des Baugewerbes, der Verein der Zementwerke, Ziegelhersteller und vor allem die Dämmstoffhersteller.
Auch die Wissenschaft mischt munter mit. Die V 18599 ist eine sogenannte Vornorm, weil ihr die Praxisbewährung fehlt.
Das gibt den Forschern einen besonders großen Einfluss.
Eine delikate Melange aus sich gegenseitig befruchtenden Interessen: Wissenschaftliche Institute leben von Fördergeldern und Evaluierungsaufträgen. Wenig verwunderlich also, dass die Fraunhofer- Institute und das Bremer Energie Institut, das seit Jahren das Gebäudesanierungsprogramm der KfW evaluiert, regelmäßig zu dem Ergebnis kommen, dass Dämmen wirtschaftlich ist und dem Klima hilft. Und wenn die Deutsche Energie-Agentur untersucht, ob sich energetische Sanierung lohnt, dann erstellt sie diese Studie „mit freundlicher Unterstützung von BASF“.
Ein besonders fragwürdiges Instrument ist der Energiesparrechner der vom Umweltministerium geförderten Klimainitiative CO2-online. Er findet sich inzwischen auf über 400 Internetseiten, von kirchlichen Initiativen über Stadtwerken bis hin zu Handwerkern.
Gibt man dort seinen Energieverbrauch ein und überprüft verschiedene Sanierungsvorschläge auf ihre Rentabilität, kommt in der Regel heraus: „Glückwunsch.
Die von Ihnen gewählten Maßnahmen sind auch wirtschaftlich sinnvoll.“ Das Ergebnis basiert auf einem Heizölpreis von 17 Cent pro Kilowattstunde, de facto ist er derzeit halb so hoch. Unter solch absurden Annahmen ist quasi jede Energiesparinvestition sofort wirtschaftlich.
Es greift alles ineinander: Die Politik gibt den Immobilienbesitzern das Ziel vor und braucht dazu Normen. Diese Normen werden von Lobbyisten festgelegt, und schon stellt sich ganz Deutschland als ein Sanierungsfall heraus. Und schon lohnen sich auch 20 Zentimeter dicke Styroporplatten. Die Immobilienbesitzer müssen sich schließlich an die Normen halten.
Fazit: Die Politik feiert sich für ihre klimapolitischen Erfolge, die Industrie kassiert ab. Und der Hausbesitzer ist der Dumme.
In Hamburg steht Albert Schett vor einer neuen, bereits rissigen Schaumstofffassade und überlegt, ob er wütend oder resigniert sein soll. „Hoffnungsvoll“, sagt er. „In zehn bis 15 Jahren sind WDVS kein Thema mehr. Irgendwann fangen sie alle an zu rechnen, ob nun in Geld oder in CO2, und wenn sie das tun, wird der Spuk vorbei sein.“ Dann lächelt er und schaut an der Mauer hoch. „Es sind noch 100 Prozent des Originals vorhanden. Unter dem Schaumstoff. Das ist die große Chance.“