Nach sieben mageren Jahren fängt Spaniens Wirtschaft wieder an zu wachsen. Doch Millionen junge Spanier merken nichts von dem Boom - und wenden sich einer radikalen Partei zu. Von Claus Hecking für DIE ZEIT.
Madrid - Die Krise kriegt Lidia de las Heras meistens zu Hause. Wenn die 28-Jährige in ihrem dunklen, kleinen Mädchenzimmer hockt und über ihr Leben grübelt. Wenn sie auf ihr Hochschulzeugnis blickt, auf das sie vor fünf Jahren so stolz war und das heute so nutzlos ist. Oder wenn ihr Vater sie, die studierte Schulpsychologin, wieder einmal fragt, warum sie nicht als Schalterbeamtin bei der spanischen Eisenbahn angefangen habe. So wie ihr jüngerer Bruder.
Dabei hat Lidia de las Heras eigentlich alles richtig gemacht. Ihren Master an der Universidad Autónoma in ihrer Heimatstadt Madrid hat sie 2010 mit überdurchschnittlich guten Noten abgeschlossen. Sie spricht fließend Französisch, Englisch und Italienisch.
Aber das reicht alles nicht, um eine Stelle zu finden und genug Geld zu verdienen, um sich jenseits des Elternhauses ein eigenes Leben aufzubauen. Weil es kaum Stellen gibt für die Akademiker der generación perdida, der »verlorenen Generation«, wie Spanier die unter 35-Jährigen in ihrem Land nennen, und von denen 3,5 Millionen seit 2008 ihren Arbeitsplatz verloren haben. Nicht mal jetzt haben sie eine Chance. Dabei ist Wahljahr, und Spaniens Regierung ruft die recuperación aus: die Genesung für das gequälte Land, das einen Preis-Crash am Immobilienmarkt, Bankenpleiten, Hilfen des EU-Rettungsschirms für den Finanzsektor und viele Sparprogramme hinter sich hat.
Sieben magere Jahre waren das. 41 Milliarden Euro hat allein die Rettung der Großbanken rund um das Skandalhaus Bankia verschlungen. Nun aber scheinen die Finanzinstitute einigermaßen stabil zu sein. Und Mariano Rajoy verspricht die Wende zum Guten: »2015 wird unsere Wirtschaft abheben«, sagt der Premierminister und Chef der von Bestechungsskandalen geschüttelten konservativen Partido Popular. Immerhin 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum habe Spanien im vergangenen Jahr erreicht.
An den Kapitalmärkten scheint die Euro-Krise für Spanien in der Tat überstanden zu sein. Der Risikozins auf Staatsschulden, der 2012 immer weiter hochschoss und das Land um seine Zahlungsfähigkeit fürchten ließ, ist auf den niedrigsten Stand seit Langem gefallen. Kurz laufende Schuldpapiere kann Madrid sogar fast zum Nullzins ausgeben.
Die anonymen Gläubiger in New York, Tokio oder London vertrauen Spaniens Regierung wieder. Nicht aber die Menschen im eigenen Land. In einer Studie des Instituts CIS bewerten keine acht Prozent der Befragten die Arbeit des Kabinetts mit »gut« oder »sehr gut«. Ganz im Gegenteil: 85 Prozent vertrauen Rajoy kaum oder gar nicht. Denn die Regierung hat das größte Problem ihrer Bürger nicht gelöst. Mehr als 5,4 Millionen Spanier sind offiziell arbeitslos gemeldet. Mit 23,7 Prozent ist die Arbeitslosenquote weit höher als in Bolivien, Botswana oder Bangladesch.
Bald werde alles besser, verspricht Fátima Báñez. »Spanien wird 2015 das Land der Euro-Zone sein, das am meisten Arbeitsplätze schafft: 600 000 neue Stellen«, kündigt die Arbeitsministerin im Gespräch mit der ZEIT an. Die elegante Endvierzigerin im Nadelstreifenkostüm sitzt vor einem Stuckkamin im Nebenraum des Abgeordnetenhauses, von der Wand blickt König Felipe auf sie herab. Báñez rückt ihre Föhnfrisur zurecht; sie kommt gerade aus dem Plenarsaal. Bis zum Ende des Jahrzehnts verspricht die Regierung sogar drei Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, falls sie wieder gewählt werde.
Boom der Mülljobs
Wie aber soll das Jobwunder gelingen? Wird Báñez nach ihrer Vision für die Zukunft gefragt, verweist sie auf ihre Arbeitsmarktreform von 2012 und die »neue Kultur der Flexibilität«, die sie geschaffen habe. Ihr Gesetzespaket hat Arbeitgebern Kündigungen erleichtert und unterstützt die Einstellung besonders junger und älterer Arbeitnehmer mit kleinen Prämien. »2014 sind 434 000 Stellen geschaffen worden, 1200 pro Tag«, schwärmt die Ministerin. Dabei verschweigt sie allerdings, dass es in Spanien heute fast 600 000 Beschäftigte weniger gibt als bei ihrem Amtsantritt 2011. Außerdem vergisst Báñez zu erwähnen, dass neun von zehn neuen Arbeitsverträgen im Land befristet sind: auf durchschnittlich gerade einmal 53 Tage.
Trabajos de basura, Mülljobs, nennen junge Spanier wie Lidia diese neuen Arbeitsverhältnisse. Nicht weil sie sich zu schade wären, aushilfsweise als Putzkraft, am Hamburger-Grill oder an der Supermarktkasse zu arbeiten. Sondern weil sie oft nur ein paar Stunden pro Woche eingesetzt und dafür meist katastrophal entlohnt werden. Gut ein Drittel der spanischen Beschäftigten verdient weniger als 600 Euro pro Monat.
»Das reicht nicht, um unabhängig zu werden«, sagt Lidia, der ihr sieben Quadratmeter großes Mädchenzimmer längst zu klein geworden ist. Aber sie ist hier gefangen. Das Bett ist noch mit der alten Kinderbettwäsche bezogen, obendrauf stehen die Plüschtiere von früher, der Pinguin, das rote Kuschelherz mit den ausgebreiteten Armen, der Hund mit den Schlappohren. Die Regale daneben sind voll von Psychologie-Lehrbüchern, das Notebook steht vor einem Vorhang mit bunten ABC-Buchstaben. »Ich fühle mich noch nicht erwachsen«, sagt Lidia.
Wie sie müssen Hunderttausende der »verlorenen Generation« daheim bei ihren Eltern leben. Eine eigene Wohnung kann sich kaum einer von ihnen leisten. Wie auch, ohne die Chance auf eine feste Stelle? Wegen der Sparmaßnahmen habe die Region Madrid für die Jahre 2013 und 2014 insgesamt nur noch acht Stellen für Psychologen ausgeschrieben, erzählt Lidia. Dabei graduiert allein ihre frühere Uni jedes Jahr 300 Psychologie-Absolventen.
Nicht einmal Ingenieure, Juristen oder Lehrer hätten bessere Chancen, berichtet der Arbeitsmarktforscher Gregorio Tudela von der Universidad Autónoma de Madrid. Báñez’ große Reform habe vor allem Entlassungen erleichtert und damit die Zahl der prekären Jobs erhöht. »Es ist ein Drama«, sagt der Professor. »Das System bringt die am besten ausgebildeten Leute hervor, die Spanien je gehabt hat. Aber es bietet ihnen keine Perspektive.«
Viel zu lange hat die Politik auf den Bau- und Bankensektor gesetzt, weil diese beiden Branchen von der Krise besonders stark betroffen waren und Massen von Beschäftigten entlassen haben. Aber das hat nicht funktioniert. »Unsere Regierung müsste neue Branchen aufbauen, zum Beispiel IT oder Maschinenbau«, beklagt Tudela. »Aber sie tut gar nichts. Und die Mittelschicht verliert ihre Hoffnung.«
Ohne Suppenküchen würden Hunderttausende hungern
Der Niedergang duftet nach Orangen. In einer riesigen Lagerhalle am Nordrand Madrids stehen Hunderte Kartons voller Früchte. Daneben stapeln sich Paletten mit Dosentomaten, Linsen und Reis bis zur Decke. Dutzende Freiwillige bringen die Ware zu den Ausgaberampen, an denen die Lastwagen warten. Oder sie packen H-Milch, Mehl, Dosen-Thunfisch und Joghurt zu Essenspaketen zusammen.
65 000 Kilo Essen und Getränke schlägt die Madrider Lebensmittelbank Tag für Tag um. Bei Supermärkten, Fabriken und Spendern lässt sie Essen einsammeln, um es an Suppenküchen, die Caritas oder Kirchen weiterzugeben. Allein im Großraum Madrid versorgen 507 Wohltätigkeitsorganisationen mit dieser Ware gut 140 000 Notleidende. Landesweit ernähren Spaniens Lebensmittelbanken sogar 1,6 Millionen Menschen – mehr als doppelt so viele wie 2008.
»Wenn wir nicht zusammenhalten würden, müssten Menschen hungern«, sagt die 59-jährige Frühpensionärin Blanca Aguirre, die einen kleinen Transporter belädt. Die Ware will sie später in der Santo-Angel-Kirche im Vorort Alcalá de Henares verteilen. Es sei ja schön und gut, dass die Wirtschaft wieder wachse, sagt Aguirre, »aber die Menschen hier spüren bislang nichts davon«.
Dem UN-Kinderhilfswerk zufolge leben in Spanien bereits 27 Prozent der Kinder in Haushalten unterhalb der Armutsschwelle – die für eine vierköpfige Familie bei 17 000 Euro Jahreseinkommen liegt. Der Abstieg aus der Mittelklasse kann schnell passieren: Arbeitslosengeld gibt es maximal für zwei Jahre. Nur besonders Notleidende und Ältere erhalten danach noch 426 Euro Arbeitslosenhilfe – aber auch die nur höchstens 18 Monate lang.
Si Podemos - Yes We Can
Lidia de las Heras sagt, sie bekomme keinen Cent vom spanischen Staat, weil sie hier noch nie ein festes Arbeitsverhältnis hatte. Sie gibt private Nachhilfestunden, die meisten ihrer Freunde schlagen sich mit Gelegenheitsjobs oder Schwarzarbeit durch. »Andere haben aufgegeben und machen gar nichts mehr«, erzählt sie. Schuld an der Misere seien die politischen Eliten, allen voran die beiden Volksparteien, die in zahlreiche Korruptionsskandale verstrickt sind. »Erst hatten die Sozialisten die Macht, jetzt die Konservativen«, sagt Lidia. »Beide haben über Jahre hinweg bewiesen, dass sie uns nicht helfen können oder wollen.«
Und so wenden sich immer mehr junge und gebildete Spanier einer neuen politischen Bewegung zu: Podemos. Auf Deutsch: »Wir können.«
In einem kleinen Ladenlokal im Madrider Szeneviertel Lavapiés stehen Kartons voller lila Regenschirme, T-Shirts und Buttons mit dem Aufdruck Podemos. Merchandising ist angeblich die wichtigste Einnahmequelle der erst ein Jahr jungen Partei, die kürzlich in Madrid mehr als 100 000 Menschen auf die Straße gebracht hat. »Si podemos«, skandierten sie, Yes we can!
Je nach Umfrage ist Podemos mittlerweile die stärkste oder zweitstärkste politische Kraft im Lande. Ihr Stammsitz hier an der Calle Zurita hat aber noch gar nichts von einem Zentrum der Macht. Lila Farbkleckse übersäen den Boden, eine Lampe hängt schief, Kabelenden hängen aus der Wand. Und als Manuel Fernández sein Notebook einschaltet, geht das Licht aus. »Wenn hier mehr als zwei Geräte gleichzeitig angeschlossen sind, springt oft die Sicherung raus«, erklärt der 42-Jährige auf dem Weg zum Verteilerkasten.
Fast täglich kommt Fernández nach seinem Halbtagsjob im Sekretariat einer Unternehmensberatung hierher: um zum Nulltarif Telefondienst zu machen, Neugierigen seine Partei vorzustellen und die nächsten Aktionen vorzubereiten. »Ich will mithelfen, wenn wir diese Gesellschaft verändern«, sagt Fernández. »Die Politiker-Kaste hat die Banken gerettet, sich selbst bereichert und das Volk arm gemacht. Podemos will Arbeit für alle schaffen.« Dann deutet er auf die Wand gegenüber, an der ein Poster der griechischen Syriza hängt. »Unsere Bruderpartei«, sagt er.
Syriza und Podemos haben einiges gemein. Sie profilieren sich beide als Anti-Establishment-Partei, als Stimme des Volkes. Sie haben einen charismatischen, jungen Anführer: Was Alexis Tsipras in Griechenland ist, ist in Spanien Pablo Iglesias. Der gerade einmal 36-jährige Politologie-Professor ist ein mitreißender Redner mit Pferdeschwanz-Frisur. Auch er schimpft auf die alten politischen Kasten, das Großkapital und gegen die von Berlin getriebene Politik des Sparens in Europa.
»Die deutsche Regierung versucht diese Krise so zu lösen wie die Ärzte im Mittelalter: per Aderlass. Aber so verschwindet nicht die Krankheit, sondern der Patient wird noch schwächer«, sagt Eduardo Gutiérrez, hauptberuflich Ökonom der linken Gewerkschaft CCOO und einer der Vordenker von Podemos. Gerade entwirft der 60-Jährige mit seinen Genossen das Wirtschaftsprogramm der Partei für die kommenden Wahlen.
Es könnte radikal werden. Gutiérrez fordert eine Umschuldung für Spanien, Tilgungsaufschub und niedrigere Zinsen. Mit dem Geld sollen die Sozialleistungen drastisch aufgestockt werden. Zugleich will er die gesetzlichen Mindestlöhne um mindestens 20 Prozent anheben.
Dies werde keine Arbeitsplätze vernichten, sondern neue schaffen, behauptet Gutiérrez: »Wenn arme Menschen Geld kriegen, geben sie es sofort aus. Sie gehen in die Bar, in den Supermarkt oder zahlen ihre Schulden – und schon dreht sich der Geldkreislauf. Das ist, wie wenn Sie Benzin in einen Motor geben.« Eine spanische Linksregierung mit Podemos-Beteiligung werde »die Machtverhältnisse in der EU verändern«, sagt er.
Lidia de las Heras weiß nicht so recht, was sie von Podemos halten soll. »Viele dieser Leute sprechen die Sprache unserer Generation, und wir wollen endlich das Licht am Ende des Tunnels sehen«, sagt sie. »Aber einige Vorschläge klingen doch ziemlich populistisch.« Zumal auch Podemos wohl nicht wirklich unabhängig sei, wie das Beispiel einer der Parteigründer zeige. Der Politologe Juan Carlos Monedero steht in der Kritik, weil er von den Linksregierungen Venezuelas, Ecuadors und Boliviens für Beratungsleistungen 425 150 Euro bekommen hat. War dieses Geld das Startkapital für Podemos?
Bei den Wahlen im November wird Lidia wohl weder die Regierungspartei noch Podemos oder die Sozialisten wählen. Sie wird schon in den nächsten Wochen nach Frankreich auswandern, um dort als Spanischlehrerin zu arbeiten. Seit Monaten büffelt sie für die Aufnahmeprüfung; nur etwa 500 Plätze werden unter mehreren Tausend Bewerbern vergeben. Aber selbst wenn sie durchfällt, will sie nicht nach Madrid zurückkehren. Notfalls, sagt die Akademikerin, werde sie im Freizeitpark von Eurodisney anfangen und am Ticketschalter Eintrittskarten verkaufen. Dann gäbe wenigstens ihr Vater endlich Ruhe.