Die Versorgung ist bedroht: Europas größtes Gasfeld löst Erdstöße aus. Müssen wir jetzt noch mehr in Russland kaufen? Von Claus Hecking für DIE ZEIT.
+++ AKTUELL: Die Erdbebengefahr in Groningen ist mittlerweile so groß, dass der niederländische Wirtschaftsminister Henk Kamp angeordnet hat, die Produktion noch weiter zu drosseln. Statt der angedachten 39,4 Milliarden Kubikmeter sollen in diesem Jahr maximal 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert werden. Eine abermalige Kürzung ist nicht ausgeschlossen. Mehr dazu: http://www.brookings.edu/blogs/up-front/posts/2015/06/26-dutch-natural-gas-production-boersma +++
Loppersum - Als der Boden unter ihr ruckt und etwas auf das Dach über ihr kracht, weiß Clara H.: Dieses Erdbeben ist anders als alle davor – stärker, furchterregender, zerstörerischer. Und als die Mittfünfzigerin aus dem Haus läuft, es ist der Abend des 16. August 2012, da wird ihr endgültig mulmig. Ziegel liegen im Vorgarten: Der Schornstein hat der Wucht nicht standgehalten. Risse ziehen sich über die Außenmauer des alten Bauernhauses am Rande des Dorfs Loppersum im Nordosten der Niederlande. Einige Backsteine hat der Erdstoß gespalten, andere wölben sich aus der Wand.
All das wäre nie passiert ohne den Schatz im Untergrund. 3000 Meter tief unter Loppersum und den Nachbargemeinden erstreckt sich das Groningen-Feld – Europas mit Abstand größtes Erdgas-Reservoir. 900 Quadratkilometer groß und bis zu 300 Meter dick ist die Gasblase am Rande der Nordsee. Sie deckt fast zehn Prozent des europäischen Jahresbedarfs, in Deutschland sogar mehr als ein Viertel.
Wenn also die Regierungschefs der Europäischen Union (EU) wie auf ihrem Gipfel vor zwei Wochen einmal mehr geloben, vom russischen Gas loszukommen, dann bauen sie nicht zuletzt auf das Vorkommen unter Groningen.
Wenn Aktivisten fordern, Europa solle aus der Atomenergie aussteigen, wollten sie die Lücke auch mithilfe des emissionsarmen Brennstoffs aus den Niederlanden schließen.
Und wer die Braunkohle im Boden lassen will, kann mehr Windräder und Solaranlagen bauen, muss aber auch noch mehr Erdgas verbrennen.
Wie man es dreht und wendet: Viele Wege in die energiepolitische Zukunft führen über das Groningen-Gas.
Doch dessen Förderung verursacht immer mehr und immer heftigere Erdbeben. Stärke 3,6 auf der Richterskala haben die Geologen am 16. August 2012 gemessen – und weil diese Erdstöße aus geringer Tiefe kommen, verursachen sie größere Schäden als natürliche Beben. Die Menschen in der Region sind verunsichert, denn seither hat es schon wieder 29-mal geruckelt mit einer Stärke von 2,0 und mehr.
»Wir wissen nicht, wie es hier weitergehen soll«, sagt Clara H. heute. Ihr Gehöft aus dem 18. Jahrhundert ist unbewohnbar. Verzogen ist das Dach, abschüssig der Küchenfußboden, merkwürdig schief hängen die Fenster im früheren Kinderzimmer. Zweieinhalb Jahrhunderte lang hat das Gebäude Stürmen, Fluten und Kriegen standgehalten. Im Oktober mussten es die H.s räumen. Einsturzgefahr. Seither leben sie in einem Wohncontainer.
Die Gasförderung ist zu einem »Sicherheitsrisiko« für rund 600 000 Einwohner der Region nahe der Grenze zu Deutschland geworden. So hat es ein staatliches Untersuchungskomitee in den Niederlanden festgestellt, und die dortige Regierung hat reagiert. Sie drosselte die Förderung im wichtigsten Gasfeld der EU um 40 Prozent gegenüber dem Jahr 2013, um das Erdbebenrisiko zu verringern.
Aufruhr im Bilderbuch-Holland
Im Konflikt mit Russland ist das ein großer strategischer Rückschlag für die EU. Denn um die Versorgung mit eigenem Gas steht es nach den Ereignissen in Groningen deutlich schlechter. Auch andere europäische Gasfelder sind langsam erschöpft. Ein Pipeline-Projekt namens Nabucco, das Nachschub aus Zentralasien herbeischaffen sollte, ist gescheitert. Umso wichtiger wäre Groningen: Denn dieses Vorkommen ist auch noch Europas Joker für Krisenzeiten.
»Das Groningen-Feld erlaubt im Gegensatz zu vielen anderen Gasfeldern eine sehr flexible Produktion«, sagt Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln (EWI). Stärker und schneller als jedes andere europäische Vorkommen könnte Groningen in kalten Wintern oder bei Produktionsausfällen seine Förderung ausweiten – und kurzfristig Versorgungslücken schließen. Doch Groningen wieder hochzufahren, das wagt so schnell kein niederländischer Politiker mehr. Zu verunsichert sind die Menschen. Zu groß ist ihre Wut.
Dabei erscheint das Gebiet über der Gasblase so friedlich. Es ist ein Vorfrühlingstag. Bauern fahren Jauche aus. Buntgefleckte Kühe grasen neben Höfen mit Backsteinfassaden und Reetdächern. Kanäle, schnurgerade wie vom Lineal gezogen, trennen Weizen- und Zuckerrübenäcker voneinander. Es riecht nach Land. Hier und da ragen Windmühlen aus dem pfannkuchenflachen Bilderbuch-Holland. Man sieht die ersten Häuser von Loppersum, dem Heimatdorf von Clara H.
Nur die monströsen Holzgerüste stören das Idyll. Sie sind an einer Reihe von Gehöften angebracht und stützen deren Mauern, damit sie nicht zusammenfallen. Auch in einigen Windmühlen klaffen Risse, und in Loppersums Kirche von 1274 hat sich ein Spalt quer durch ein jahrhundertealtes Fresko gezogen. »Fast kein Gebäude hier ist erdbebensicher gebaut, früher gab es ja nie Beben«, sagt John Lanting, Sprecher der Bürgerinitiative »Schokkend Groningen«. Er fordert, die Gasförderung komplett zu stoppen: »Hier ist nicht nur jahrhundertealte Kultur bedroht. Hier geht es um Menschenleben.«
Fast 90 000 Gebäude sind laut einer Studie der Universität Delft in Gefahr. Noch ist keines eingestürzt, noch ist niemand schwer verletzt oder gar getötet worden. Aber laut einer Studie der Betreibergesellschaft NAM sind Beben mit einer Stärke von bis zu 5,3 möglich. Zum Vergleich: Beim Beben im italienischen L’Aquila (5,8) von 2009 starben mehr als 300 Menschen. »Wir müssen in Groningen mit noch stärkeren Erdbeben rechnen«, sagt Sander van Rootselaar von NAM. Könnte es dann Tote geben? »Wenn jemand zur falschen Zeit am falschen Ort ist«, antwortet der Unternehmensvertreter gewunden, »könnte es ein Sicherheitsrisiko geben.«
Erschütterungen gehören zur Gasgewinnung dazu, da der Druck in der Lagerstätte durch die Entnahme des Stoffs sinkt. So bauen sich über Jahre Spannungen im Untergrund auf, die sich früher oder später entlang von Bruchflächen entladen. Es entstehen seismische Wellen, die sich ausbreiten. Und weil der Weg von der Lagerstätte zur Oberfläche nur drei Kilometer kurz ist, treffen die Wellen konzentriert auf ein kleines Gebiet. Dort richten sie mehr Schaden an als ähnlich starke natürliche Beben, die sich oft in 10 oder 15 Kilometer Tiefe abspielen. Mikrobeben waren einkalkuliert, als die Niederländer 1959 begannen, das Super-Reservoir anzuzapfen. Doch die jüngsten Erdstöße sind von ganz anderer Natur. »Bis zum Jahr 2012 haben wir insgesamt 1100 Schadensmeldungen erhalten. Seither sind 30 000 dazugekommen«, sagt NAM-Vertreter van Rootselaar. »Das ist eine andere Welt geworden.«
Viel zu lange, zürnt Loppersums Bürgermeister Albert Rodenboog, habe die Regierung in Den Haag die Groninger Beben unterschätzt. Wirtschaftsminister Henk Kamp von der rechtsliberalen Regierungspartei VVD tat sie noch 2013 als Risiko für einen »kleinen Teil der Bewohner unseres Landes« ab – und ließ die Produktion auf 54 Milliarden Kubikmeter erhöhen. Und warum? Nur dank der Gasmilliarden gelang es den wirtschaftlich schwächelnden Niederlanden, ihr Staatsdefizit unter die Maastricht-Grenze von maximal drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken. Andernfalls wären es fünf Prozent Minus gewesen.
Über die Jahrzehnte haben der Staat und die an NAM beteiligten Energiekonzerne Shell und ExxonMobil rund 265 Milliarden Euro eingenommen; 2014 waren es allein rund 11 Milliarden Euro. Doch seit dem 18. Februar können die Niederländer in einem offiziellen Bericht des Untersuchungsrates des Staates für Sicherheit nachlesen: Den Betreibern und dem Staat ging Geld vor Sicherheit.
Viele Bürger hat das empört: so sehr, dass der Minister öffentlich Abbitte leistete. »Es tut mir sehr leid, dass die Sicherheitsinteressen der Groninger Einwohner nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie verdienten«, sagte Kamp. Und gelobte: »Die Sicherheit steht jetzt obenan.« Der Minister ordnete an, 2015 dürften maximal 39,4 Milliarden Kubikmeter gefördert werden (AKTUELL: NACH EINEM NEUEN BESCHLUSS VOM 23. Juni 2015 sind es noch maximal 30 Milliarden Kubikmeter, d. Red.). Und damit nicht genug.
Häuser im Gebiet sollen künftig erdbebenfest gebaut werden. Für die Verstärkung bestehender Gebäude sowie Schadensabwicklung stellt die Betreibergesellschaft 1,2 Milliarden Euro bereit. Denn wegziehen kann sich kaum jemand leisten: Immobilien im Krisengebiet sind heute fast unverkäuflich. »Wir sind Gefangene in unseren eigenen Häusern geworden«, sagt Bürgermeister Rodenboog. Umso wichtiger seien Produktionskürzungen. »Betreiber und Regierung müssen beweisen, dass ihnen die Sicherheit der Menschen wichtiger ist als Geld.«
Deutschland kriegt ein Problem
Man muss über die Äcker gehen, ganz nah heran an den Sperrzaun inmitten der Felder, um die Bohranlage t’Zandt noch hören zu können. Leise pfeift und surrt sie. Irgendwo in einem Gewirr von silbrigen Rohren und Tanks bringt ein Kompressor ein wenig Gas aus der Tiefe auf den richtigen Druck, um es dann in die Pipelines zu geben. Keine Menschenseele ist vor Ort, die Anlage läuft auf Sparflamme. Auf Geheiß der Regierung holen sie rund um Loppersum derzeit 80 Prozent weniger Gas als zuvor aus dem Boden. »Wir verursachen die Beben«, sagt Konzernsprecher van Rotselaar. »Aber wie es hier weitergeht, muss letztlich das niederländische Volk entscheiden.«
Wirtschaftsminister Kamp hat die Drosselung nur bis Ende Juni beschlossen. Aber der Druck ist enorm, sie auf Jahre hinaus zu verlängern. Die Sozialdemokraten, Koalitionspartner der Rechtsliberalen in Den Haag, und mehrere Oppositionsparteien haben sich festgelegt. »Das Schiff hat seinen Kurs geändert«, sagt Max van den Berg, der sozialdemokratische Gouverneur der Provinz Groningen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Feld in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch mal seine Produktion steigern wird.« Das hieße, pro Jahr würden die Betreiber 21 Milliarden Kubikmeter weniger fördern. Das ist ziemlich genau die Menge, die Deutschland bislang den Niederländern abkauft.
Um diesen Ausfall auszugleichen, könne russisches Gas »eine Option sein«, sagt Wirtschaftsminister Kamp. Zwar fördern Groningen und andere Felder noch ausreichend Gas für den nationalen Bedarf – nicht aber genug, um bestehende Exportverträge zu erfüllen. »Wir werden unsere laufenden Lieferverpflichtungen bis zum Ende einhalten«, sagt Gouverneur van den Berg. »Aber ich erwarte nicht, dass danach neue große Verträge mit Deutschland geschlossen werden.« Laut dem Netzbetreiber Gasunie laufen die bestehenden Kontrakte bis 2020 aus.
Deutschland muss sich mittelfristig auf viel weniger niederländisches Gas einstellen. Besondere Engpässe drohen dann im »L-Gas«-Netz, das weite Teile Nordrhein-Westfalens und Niedersachsens versorgt. Vier bis fünf Millionen Heizungsanlagen in Privathaushalten sind laut dem Kölner EWI-Institut auf das niederländische »Low Calorific Gas« mit seinem etwas niedrigeren Energiegehalt eingestellt. Hinzu kommen Tausende Verbrennungsgeräte in Unternehmen sowie sämtliche Gaskraftwerke in diesem Netz. Sie können nicht einfach mit einer anderen Gas-Sorte betrieben werden.
Auch Deutschlands eigene bescheidene Gasproduktion wird sich in der kommenden Dekade halbieren. Im übrigen Europa sieht es kaum besser aus: Großbritanniens Förderung bricht ein, Norwegen droht ohne weitere Milliardeninvestitionen dasselbe Schicksal. Und neue Projekte stoßen auf heftigen Widerstand der Bürger: allen voran Fracking. Das Verfahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien unter hohem Druck in den Untergrund gepresst wird, ist wegen möglicher Umweltschäden umstritten. Und: Auch bei Fracking drohen Erdbeben.
Was wäre die Alternative? Die EU-Kommission setzt auf Lieferungen aus Zentralasien – von den autokratischen Regimen in Aserbaidschan und Turkmenistan. Einige EU-Staaten wollen mehr verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Katar, Algerien und Nigeria einkaufen. Aber das ist teurer als Gas aus bestehenden Pipelines. Ungarns Premier Viktor Orbán macht lieber gleich einen neuen Gas-Deal mit Russland – zum Entsetzen Brüssels und einiger ungarischer Nachbarstaaten.
Viele Menschen rund um Groningen wissen um diese Probleme. Dennoch würden sie gegen jeden Versuch kämpfen, die Gasförderung wieder zu steigern. »Der Staat hat viel Geld verdient, und wir mussten die Folgen ertragen«, sagt Carla H. Nun haben Entschädigungsverhandlungen begonnen: 500 000 Euro würden die H.s für ein neues Haus brauchen. Das wollen sie auf ihrem alten Grundstück bauen – mitten im Erdbebengebiet.»Wir gehen hier nicht weg«, sagt die Bäuerin. »Das ist doch unser Boden.«