Abgase von Kohlekraftwerken töten jährlich zehntausende Menschen. Dennoch wollen die EU-Mitgliedstaaten nur laxe Grenzwerte für die Emissionen beschließen. Vertrauliche Dokumente zeigen, wie die Stromlobby die Entscheidungsträger beeinflusst. Von Claus Hecking für DIE ZEIT.
UPDATE, 11.10.2016: Der finale Entwurf liegt mittlerweile vor. http://eippcb.jrc.ec.europa.eu/reference/BREF/LCP_FinalDraft_06_2016.pdf Er sieht weiterhin ziemlich laxe Grenzwerte vor. Einzige nennenswerte Verschärfung: Braunkohlekraftwerke dürfen maximal 150 mg Stickoxide je Kubikmeter Abluft freisetzen, geplant waren ursprünglich 180 mg. Immerhin: vielleicht verhindert das die eine oder andere Herz-Kreislauf-Erkrankung.
Wenn der Smog der Kohlekraftwerke mal wieder in ihrer Stadt steht und den Platz des Himmlischen Friedens in grauen Nebel hüllt, verhüllen sich Pekings Bürger. Zehntausende ziehen sich Atemmasken übers Gesicht – sofern sie sich noch vor die Tür wagen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert die Luftverschmutzung jährlich Hunderttausende Menschenleben in China. Dafür verantwortlich ist maßgeblich der Chemikaliencocktail aus den Schloten: Stickoxide, Schwefeldioxid, Feinstaub, Quecksilber. Die Regierung hat nun offiziell den »Krieg gegen die Luftverschmutzung« ausgerufen. Mehrere Hundert Kohlekraftwerke mussten bereits schließen. Und die Betreiber von Meilern, die sich nicht an die verschärften Grenzwerte in den Regionen rund um die großen Metropolen halten, müssen damit rechnen, dass auch ihre Kraftwerke abgeschaltet werden.
In Europa ist der Smog zum Glück lange nicht so schlimm. Entsprechend gering erscheint allerdings auch der Wille hiesiger Politiker, die Luftverschmutzung entschieden zu bekämpfen. Nur so lassen sich die laxen Grenzwerte erklären, welche die EU bei der nun anstehenden Reform der Emissionsstandards für Kohlekraftwerke anpeilt. In dieser und der kommenden Woche soll sich, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, ein Gremium aus Vertretern der Mitgliedstaaten, der EU-Kommission sowie der Industrie und Umweltorganisationen auf neue Obergrenzen von 2020 an verständigen. Noch dieses Jahr sollen die Regierungschefs alles absegnen. Die bisher vorgeschlagenen Grenzwerte für schädliche Abgase sind strenger als die alten Höchstwerte, aber oft großzügiger als in den USA, Japan oder China.
Stille Killer
Wenn in Deutschland über Kohlekraftwerke diskutiert wird, geht es fast immer um das Treibhausgas Kohlendioxid, den Hauptverursacher des Klimawandels. Von Schwefeldioxid, Stickoxiden oder Quecksilber hingegen ist kaum noch die Rede – anders als in den 1980er Jahren, als die Deutschen sauren Regen und Waldsterben fürchteten und Kraftwerkbetreiber Filter zur Rauchgasentschwefelung einbauen mussten.
Dabei sind die Gesundheitsschäden bis heute beträchtlich. Mehr als 20 000 Europäer sollen jährlich laut einer Studie der Universität Stuttgart an den Abgasen von Kohlekraftwerken sterben. Nach Berechnungen der Umweltorganisation Greenpeace werden Europas Bürger zwischen 2020 und 2029 insgesamt mehr als 700 000 Lebensjahre verlieren, sollte die EU die Grenzwerte für die Kraftwerkabgase nicht auf das technisch Machbare absenken. »Die Europäer stellen sich gerne als die Vorreiter bei Umweltthemen dar«, sagt Tara Connolly, Energieexpertin von Greenpeace in Brüssel. »Aber die bisherigen Vorschläge für die Abgasgrenzwerte richten sich vor allem nach den Interessen der Industrie.« Und die will unter allen Umständen höhere Kosten für neue Filter oder Katalysatoren vermeiden – auch wenn sich der Aufwand dafür in Grenzen halten dürfte.
Unabhängigen Experten zufolge kosten Technologien, die Schwefeldioxid- und Quecksilberemissionen dreckiger Meiler substanziell senken, einstellige Euro-Millionenbeträge pro Kraftwerk. Für die Reduzierung der Stickstoffoxide könnten ein- bis zweistellige Millionenbeträge fällig werden. Zum Vergleich: Kohlekraftwerke können jährlich Strom im Wert von mehreren Hundert Millionen Euro generieren.
Während die Technologien in vielen modernen Kraftwerken längst Standard sind, müssten vor allem in den östlichen EU-Ländern einige alte Meiler nachgerüstet werden. Naturschützer fürchten aber, dass sich bei den Verhandlungen der richtungsweisende Entwurf des Europäischen Büros zur Integrierten Prävention und Kontrolle der Verschmutzung (IPPC) durchsetzt. Er ist das Ergebnis wochenlanger Sitzungen von Vertretern der EU-Mitgliedstaaten – und generös gegenüber den Kraftwerkbetreibern. Steinkohlemeiler etwa sollen bis zu 150 Milligramm Stickoxide pro Kubikmeter Abluft freisetzen dürfen, Braunkohlemeiler sogar bis zu 180 Milligramm (UPDATE 11.10.2016: jetzt auch 150 mg). In China sind maximal 100 Milligramm erlaubt. Stickoxide können unter anderem Atembeschwerden auslösen und Böden versauern. Beim toxischen Schwermetall Quecksilber liegen die geplanten EU-Obergrenzen teils doppelt so hoch wie etwa in den USA.
Landesamt schreibt bei der Stromlobby ab
»Mein Eindruck ist, dass die Emissionsbandbreiten an die jetzigen Emissionen bestimmter Kraftwerke angepasst werden, damit die Unternehmen keine neue Technik einbauen oder nachrüsten müssen«, sagt Christian Schaible, Experte des Europäischen Umweltbüros, des Brüsseler Dachverbands für mehr als hundert Naturschutzorganisationen. Die vorgeschlagenen 180 Milligramm für Stickoxide etwa entsprächen dem derzeitigen Ausstoß eines großen Braunkohlemeilers in Polen. Greenpeace hält die IPCC-Arbeitsgruppe für unterwandert. 183 der 352 Delegierten in dem Gremium seien Industrievertreter, behauptet die Organisation; 46 von ihnen firmierten offiziell als Experten der Mitgliedstaaten.
Tatsächlich legen Verhandlungsdokumente, die der ZEIT vorliegen, massiven Lobbyeinfluss nahe. So brachte eine Abgesandte des spanischen Staates 114 Änderungsvorschläge ein – alle im Namen von Verbänden der Elektrizitätswirtschaft. Sämtliche sieben Delegierte Griechenlands waren für den Energiekonzern DEI tätig. Im britischen Team waren Vertreter der Stromriesen RWE und EDF.
Merkwürdig erscheint auch ein Änderungsvorschlag aus der deutschen Delegation. Ein vom Bayerischen Landesamt für Umwelt entsandter Experte bemängelte vorgeschlagene Stickoxidgrenzwerte für Braunkohle- und bestimmte Steinkohlekraftwerke als »zu ambitioniert« und forderte eine nochmalige Aufweichung der Obergrenzen. Die Verhandlungsunterlagen zeigen: Der Kommentar des Behördenvertreters, sein Änderungswunsch und auch die Begründung waren passagenlang wortgleich mit den Eingaben zweier Industrielobbyisten des Bundesverbandes der Deutschen Elektrizitätswirtschaft (BDEW) und des Gesamtverbandes Steinkohle.
Eine Sprecherin des Bayerischen Landesamts für Umwelt erklärt auf Anfrage der ZEIT, ihr Haus habe in diesem Punkt dieselbe Auffassung wie der Verband der Stromindustrie vertreten. »Bei der deutschen Kommentierung wurde deshalb auf Teile des Originalwortlautes der Äußerungen des BDEW zurückgegriffen.« Im Klartext: Die Umweltbehörde hat aus der Stellungnahme des Industrieverbandes abgeschrieben.
Die Brüsseler Kommission versucht die Wogen zu glätten. Eine umfassende Regulierung der Kohlekraftwerkemissionen auf EU-Ebene habe »in den vergangenen Jahrzehnten die Luftverschmutzung signifikant heruntergebracht«, schreibt ein Sprecher von Umweltkommissar Karmenu Vella auf Anfrage der ZEIT. Man arbeite daran, »die Verschmutzung und die Zahl der durch sie verursachten vorzeitigen Tode weiter zu verringern«. Zudem seien die Verhandlungen über die neuen Grenzwerte »noch nicht abgeschlossen«.
Die nächsten Tage werden zeigen, wie ernst es Europas Politikern wirklich ist mit dem Kampf gegen die Abgase.