„Jeder kann hineingezogen werden, wenn er Erdoğan im Weg steht“


Der türkische Starökonom Dani Rodrik über verfolgte Unternehmer, Erdoğans Machtkonzentration und die Angst vor dem Wirtschaftscrash

DIE ZEIT: Professor Rodrik, nach dem gescheiterten Putschversuch in Ihrer Heimat Türkei weitet Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine »Säuberungen« auf Unternehmen aus. Er behauptet, der angebliche Drahtzieher des Putsches Fethullah Gülen habe Rückhalt bei Geschäftsleuten. Ist das nur ein Vorwand?

Dani Rodrik: Erdoğan ist dabei, eine imperiale Präsidentschaft aufzubauen, also ein System mit enormer Machtkonzentration rund um sich selbst. Das unmittelbare Ziel dieser Säuberungen sind Teile der Wirtschaft, die mit Gülen verbunden sind. Aber es ist klar: Jeder kann hineingezogen werden, wenn er Erdoğan im Weg steht.

RodrikDani

Als Harvard-Ökonom und Freihandelskritiker ist Dani Rodrik weltbekannt. Dass der 58-Jährige Türke ist, wussten nur wenige – bis 2010. Da wurde sein Schwiegervater Çetin Doğan verhaftet: wegen angeblicher Putschpläne. Rodrik und seine Ehefrau bewiesen Doğans Unschuld.

ZEIT: Sind die »Gülen-Unternehmer« eine ernsthafte Bedrohung für die Regierung?

Rodrik: Nicht in diesem Moment. Vor einigen Jahren, als die Gülen-Bewegung noch eng mit der AKP verflochten war, hatten diese Unternehmer Macht und Privilegien. Aber nach dem Bruch mit Erdoğan verloren sie Einfluss. Und in den Monaten vor dem Putschversuch hat die Regierung die Kontrolle über einige der wichtigsten Gülen-Unternehmen übernommen, Eigentümer und Manager verhaftet. Schon vergangenes Jahr hat der Staat Gülens Bank Asya unter seine Kontrolle gebracht. Jeder, der mal mit dieser Bank zu tun hatte, ist jetzt auf der Liste der Verdächtigen.

ZEIT: Sie selbst sind Türke, in Istanbul geboren und mit einer Türkin verheiratet. Ihr Schwiegervater, ein pensionierter General, wurde 2010 beschuldigt, einen Putsch gegen Erdoğan geplant zu haben. Erst als Sie und Ihre Frau bewiesen, dass die angeblichen Komplottpläne gefälscht waren, wurde Ihr Schwiegervater aus dem Gefängnis entlassen. Wird er nun auch wieder verfolgt?

Rodrik: Nein, er ist rehabilitiert. Und unsere Warnungen, dass Gülen und seine Anhänger eine große Gefahr für die Türkei sind, haben die Ereignisse der vergangenen Wochen bestätigt. Jetzt benutzt die Justiz unsere Dokumente, die wir damals recherchiert haben, um gegen die Gülen-Bewegung zu ermitteln.

„Jetzt kann sich niemand mehr Erdoğans Kurs widersetzen“

ZEIT: Sie haben über Verflechtungen der Gülen-Anhänger recherchiert, um Ihren Schwiegervater zu entlasten?

Rodrik: Ja. Ich wünschte, dass meine Frau und ich den Menschen damals besser klargemacht hätten, was los war. Es ging damals nicht nur darum, dass mein Schwiegervater und mehrere Hundert andere Menschen ins Gefängnis gesteckt und dass ihre Rechte auf einen fairen Prozess verletzt wurden. Nein, die Türkei war in großer Gefahr, weil eine kriminelle Organisation die Justiz und verschiedene Staatsinstitutionen übernommen hatte. Das war das große Krebsgeschwür, welches das türkische politische System bedrohte. Nun hat es sich bewahrheitet, dass es dieses Krebsgeschwür gibt. Aber leider waren seine Auswirkungen größer, als ich vorhergesagt hatte. Alle sagen jetzt, dass wir damals recht hatten. Aber ich wünschte, wir hätten es geschafft, sie früher zu überzeugen. Dann hätte es gar nicht so weit kommen müssen.

ZEIT: Glauben Sie wirklich, dass der große Stratege Gülen hinter diesem amateurhaften, schlecht koordinierten Versuch eines Staatsstreichs steht?

Rodrik: Die Putschisten sind augenscheinlich sehr hastig vorgegangen. Ich glaube, sie mussten früher als geplant handeln, weil offenbar eine große Säuberungsaktion im Militär gegen Gülen nahestehende Offiziere bevorstand. Dies könnte einigen Dilettantismus erklären. Und der Staatsstreich hätte auch ganz anders ausgehen können, wenn sich einige Generale angeschlossen hätten und die Bevölkerung nicht so entschieden auf die Straße gegangen wäre.

ZEIT: Wie steht es mit den türkischen Unternehmern, die Gülen nicht nahstehen? Halten sie zu Erdoğan?

Rodrik: Das ist uneinheitlich. Neben den Gülen-Sympathisanten gibt es einige Unternehmer, die in den letzten Jahren reich geworden sind – etwa durch den Bauboom und die vielen großen öffentlichen Aufträge unter Erdoğan. Das sind meist Menschen, die aus Anatolien stammen, ein konservatives Weltbild haben, der AKP nahestehen. Und dann gibt es vor allem in Istanbul viele Jahrzehnte alte Unternehmen, die mit früheren säkularen Regierungen verbunden waren. Aber sie machen Geschäfte mit der AKP-Regierung und würden nie öffentlich in Opposition gehen.

ZEIT: Welchen Einfluss nimmt Erdoğan?

Rodrik: Er ist die Schlüsselfigur: für die Wirtschaft ebenso wie für jede Sphäre der Politik. Schon vor dem Putschversuch hatte Erdoğan einige unabhängige Wirtschaftspolitiker in seiner AKP degradiert oder entfernen lassen. Jetzt, nach dem Putsch, kann sich niemand im Land seinem wirtschaftspolitischen Kurs widersetzen.

„Das Fundament der Wirtschaft wackelt“

ZEIT: Wie sieht dieser Kurs aus? Steuert das Land auf einen Staatskapitalismus nach chinesischem Modell zu?

Rodrik: Erdoğan verfolgt ein Modell des wirtschaftlichen Populismus. Er kombiniert Großinvestitionen, öffentliche Aufträge und Vetternwirtschaft. Wenn die Regierung etwa riesige Infrastrukturprojekte wie den neuen Flughafen von Istanbul oder eine weitere Bosporus-Brücke bauen lässt, profitieren davon Unternehmen, ihre Mitarbeiter und Erdoğan selbst. Viele Bürger sehen in ihm einen Herrscher, der anpackt. Aber dieses AKP-Modell ist verwundbar. Es steuert auf sein Ende zu.

ZEIT: Warum?

Rodrik: Das Fundament wackelt. Denn die Türkei macht seit Jahren enorme Leistungsbilanzdefizite.

ZEIT: Das bedeutet, die Türken geben mehr Geld für ausländische Güter und Dienstleistungen aus, als sie einnehmen durch den Verkauf türkischer Güter ins Ausland.

Rodrik: Ja. Das bedeutet, dass viel Geld aus der Türkei abfließt. Und das muss zuvor erst mal ins Land gelangen, etwa als Direktinvestition. Die Türkei hat bislang gute Renditen bei überschaubarem Risiko geboten; vor allem für Geldgeber aus dem Nahen Osten und vom Golf war das sehr attraktiv. Die Türkei hatte eine gute Geschichte: die des Landes, das den Islam und die Demokratie miteinander vereint – und das in einer der instabilsten Regionen der Welt. Aber jetzt ist dieses Narrativ implodiert. Der Putschversuch hat gezeigt, wie fragil das Land ist. Die Touristen bleiben weg, und die ausländischen Investitionen werden nachlassen.

ZEIT: Erdoğan setzt nun die Banken unter Druck. Er fordert Zinssenkungen, obwohl das die ohnehin hohe Inflation weiter anheizen könnte. Wird das die türkische Notenbank mitmachen?

Rodrik: Laut Gesetz ist die Zentralbank unabhängig. De facto ist sie das längst nicht mehr. Wenn Erdoğan gegen die sogenannte Zinslobby ins Feld zieht, wird die Zentralbank dem Druck kaum standhalten. Erdoğan hat eine entschiedene Meinung zur Wirtschaft. Er glaubt, dass hohe Inflation das Resultat hoher Zinsen ist.

ZEIT: Ökonomen sagen genau das Gegenteil: Niedrige Zinsen senken den Anreiz zum Sparen und treiben Konsum und Kreditnachfrage hoch. Das lässt die Preise steigen, nicht sinken.

Rodrik: Eben. Ich denke, dass Erdoğans Blick auf die Wirtschaft sehr gefährlich ist. Er wird alles tun, was in seiner Macht steht, um Wachstum zu liefern – auch um seine eigenen Reihen zusammenzuhalten. Sollte sich die Binnennachfrage weiter abschwächen, könnte er versuchen, die Konjunktur mit billigen Krediten aufzupumpen.

ZEIT: Bis vor ein paar Jahren wuchs die türkische Wirtschaft mit bis zu neun Prozent pro Jahr. Jetzt steckt sie in der Krise. Was ist schiefgelaufen?

Rodrik: Die Türkei hat wie kaum ein anderer Staat in der Region vom Schwellenländer-Hype im vergangenen Jahrzehnt profitiert. Aber die türkische Wirtschaft ist vor allem nachfragegetrieben, abhängig von Staatsaufträgen und dem Konsum. Die Produktivität steigt nicht stark genug, der technologische Fortschritt ist nicht schnell genug.

ZEIT: Aber was ist mit Vorzeigeunternehmen wie Turkish Airlines oder dem Haushaltsgerätekonzern Arçelik, der Grundig übernommen hat?

Rodrik: Es gibt einige türkische Weltklassefirmen, aber sie machen nur einen kleinen Teil der Wirtschaft aus. Dem Rest geht es nicht gut.

ZEIT: Erwarten Sie, dass die türkische Wirtschaft crasht?

Rodrik: Wirtschaftsmodelle, die von Nachfrage und ausländischem Kapital getrieben werden, funktionieren nur so lange, wie das ausländische Geld fließt. Und dann geraten sie aus den Fugen. Ich weiß nicht, wann das in der Türkei passieren wird. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch lange so weitergeht.

„Die EU-Beitrittsverhandlungen müssen auf Eis gelegt werden.“

ZEIT: Wohin bewegt sich die Türkei als politisches System? Ist sie als Demokratie verloren?

Rodrik: Ich denke, dass die Türkei ein illiberale Demokratie wird, die Menschen nicht gut beschützt, wenn sie nicht Teil der konservativen sunnitisch-islamistischen Mehrheit sind. Aber das gibt es nicht nur in der Türkei. Ähnliches passiert auch in Ungarn oder Polen. Die Türkei hat sich schon vor dem Putsch in diese Richtung bewegt. Und der Staatsstreich hat Erdoğan die Chance eröffnet, seine Macht zu festigen.

ZEIT: Wie sollte der Westen darauf reagieren?

Rodrik: Einerseits sollten die westlichen Staaten für die Werte der liberalen Demokratie eintreten; die Türkei auffordern, den Rechtsstaat so schnell wie möglich wiederherzustellen. Andererseits sollten die europäischen Politiker aber auch Verständnis dafür zeigen, dass der Staatsstreich für viele Türken ein Trauma war. Aus der türkischen Perspektive bevorzugen die westlichen Staaten Gülen gegenüber Erdoğan, ohne zu verstehen, wie gefährlich die Gülen-Bewegung ist.

ZEIT: Sollte die EU jetzt alle Beitrittsverhandlungen mit Ankara abbrechen?

Rodrik: Die Beitrittsverhandlungen müssen auf Eis gelegt werden. Es sollte für die Türkei immer eine Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft geben. Aber es muss klar sein, dass es diese Perspektive nur für ein Land gibt, in dem es Gewaltenteilung und einen funktionierenden Rechtsstaat gibt. Und davon entfernt sich die Türkei gerade rapide.

ZEIT: Wo wird Ihr Land in zehn Jahren stehen?

Rodrik: Mein Worst-Case-Szenario ist, dass ein offener Bürgerkrieg gegen die Kurden ausbricht, dass inländischer Terrorismus alltäglich und das Land unbeherrschbar wird. Im besten Fall könnte die Türkei zu einer Art Malaysia des Nahen Ostens werden: wirtschaftlich erfolgreich, aber illiberal, geprägt von Vetternwirtschaft und groß angelegter Korruption. Auch dieses Szenario macht mich nicht glücklich. Aber ich sehe keine Perspektive für eine liberale Demokratie.

Die Fragen stellte Claus Hecking

 

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