Vor 14 Jahren versetzte der Rinderwahn die Menschen in Angst und Schrecken. Heute scheint die Seuche besiegt, kein Deutscher ist erkrankt. Dabei ist die Gefahr längst nicht gebannt. Von Claus Hecking und Christina Elmer für SPIEGEL ONLINE
Die Frau, die sehr früh die Deutschen vor BSE warnte, hat ihren Arbeitsplatz und ihren guten Ruf als Tierärztin verloren. Heute muss sie von einer kargen Rente leben. Trotzdem, sagt Margrit Herbst, würde sie alles wieder genauso machen wie damals im Herbst 1994: „Das ist doch meine tierärztliche Pflicht.“
Die heute 74-Jährige hat teuer bezahlt für ihren Tabubruch. Über Jahre hatte die Inspekteurin in einem schleswig-holsteinischen Schlachthof ihre Vorgesetzten immer wieder auf merkwürdig trabende, torkelnde oder aggressive Kühe aufmerksam gemacht, die der Betrieb womöglich aus Großbritannien importiert hatte. Aber weil sich BSE damals kaum nachweisen ließ, wurden die Tiere doch zur Fleischverarbeitung durchgewunken.
Dann aber äußerte Herbst im Fernsehen einen ungeheuerlichen Verdacht: An deutschen Schlachthöfen würden möglicherweise Tiere mit Symptomen des tödlichen Rinderwahns zu Lebensmitteln gemacht. Prompt feuerte ihr Arbeitgeber, der Kreis Segeberg, die vermeintliche Nestbeschmutzerin: wegen Verstoßes gegen die Verschwiegenheitspflicht.
Vielleicht hat Margrit Herbst mit diesem Verstoß Dutzenden Menschen das Leben gerettet. Ganz sicher hat die couragierte Veterinärin mit dafür gesorgt, dass der Rinderwahn zum großen Thema in Deutschland wurde. Dass der Druck auf die Bundesregierung so wuchs, dass sie nach langem Widerstand den Import von Rindern und Rindfleischprodukten aus Großbritannien verbot, wo die Seuche seit Jahren kursierte. Dass die Wissenschaftler Tests entwickelten, mit denen sie die Bovine Spongiforme Enzephalopathie (BSE) nachweisen konnten, die aller Wahrscheinlichkeit nach durch Proteine, sogenannte Prionen, übertragen wurde. Und dass die Politik dann doch noch entschlossen handelte, als der Rinderwahn in Deutschland amtlich wurde.
Torkelnde Kühe, Brennende Rinderkadaver
Am 24. November 2000 zeigt ein Schnelltest, dass eine Kuh in Schleswig-Holstein mit BSE infiziert ist: einem Prion-Protein, das auch beim Menschen schwammartige Gehirnveränderungen wie eine Variante der tödlich verlaufenden Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auslösen kann. Die Nachricht schockiert sie alle: die Bauern, die Politiker und vor allem jene Bürger, die den Rinderwahn bis dato als rein britisches Problem wahrgenommen hatten.
Bilder torkelnder, stürzender Kühe, brennender Rinderkadaver und zerfressener Gehirne flimmern wochenlang über die Fernseher. Die Bundesregierung beschließt eine Sofortmaßnahme nach der anderen, um die Ausbreitung zu stoppen und verseuchtes Fleisch frühzeitig zu identifizieren. Zwei Bundesminister müssen im Zuge des Skandals gehen. Einige besonders verunsicherte Verbraucher wagen sich gar nicht mehr zur Kühltheke, aus Angst, sich bei Rindfleisch anzustecken. Angesehene Epidemiologen warnen vor Tausenden, Zehntausenden Toten weltweit.
Sie haben sich geirrt. Bis zum Juni 2014 sind laut Statistiken genau 229 Menschen weltweit an der Krankheit gestorben, die heute als neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (nvCJD) bekannt ist. Unter ihnen sind 177 Briten - aber kein einziger Deutscher.
War die ganze Aufregung um den Rinderwahn im Winter 2000 also nur Panikmache?
Armin Giese schüttelt den Kopf. „Wenn man sich die Verbreitungsgeschichte anschaut, liegt der Schluss nahe, dass wir womöglich nur ganz knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind“, sagt der kommissarische Leiter des Zentrums für Neuropathologie und Prionforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Politik habe unter dem hohen Druck der Medien und Bürger schnell konsequente Gegenmaßnahmen eingeleitet und so das Ausbreiten des Erregers verhindert. Ein halbes Jahr länger zu warten, hätte laut Giese das Risiko vieler Todesopfer oder Langzeitschäden in Deutschland drastisch erhöht.
Vor allem drei politische Entscheidungen haben BSE laut Giese in Deutschland entscheidend eingedämmt:
Der Bundestag verbot nur wenige Tage nach dem 24. November die Verfütterung von Tiermehl, das als einer der wichtigsten Übertragungswege für den Erreger gilt.
Die damalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer ordnete per Dringlichkeitsverordnung flächendeckende BSE-Tests für alle geschlachteten Rinder an, die älter als 30 Monate sind; die im Zuge der Krise neu eingesetzte Verbraucherschutzministerin Renate Künast weitete sie aus.
Der Gesetzgeber untersagte schon im Oktober 2000 die Verarbeitung von Rinderhirn, Rückenmark oder Darm für Lebensmittel.
Die Maßnahmen haben gewirkt. Registrierten die hiesigen Gesundheitsbehörden 2001 noch 125 und im Jahr darauf 106 BSE-infizierte Rinder, wurde zwischen 2010 und 2013 kein einziger Fall mehr bekannt. „Wir hatten das große Glück, dass wir nicht als erstes Land von dieser Epidemie betroffen waren“, sagt Giese.
In Großbritannien sieht das anders aus. Hier wurden seit Mitte der Achtzigerjahre mehr als 180.000 infizierte Rinder erfasst, Gegenmaßnahmen spät eingeleitet. Eine Londoner Studie hält es für wahrscheinlich, dass sich einer von 2000 Einwohnern Großbritanniens mit dem nvCJD-Erreger infiziert hat. Dies wären etwa 30.000 Menschen. Wie viele von ihnen daran sterben werden, ist unabsehbar. Die Krankheit kann womöglich noch Jahrzehnte nach der Infektion ausbrechen, muss sie aber nicht.
Für die Landwirtschaft war BSE eine Zeitenwende - auch wenn die von Renate Künast oft beschworene große „Agrarwende“ im Ansatz stecken geblieben ist. „Im Zuge dieses Skandals wurden viele Strukturen des alten Systems aufgedeckt“, sagt die ehemalige Ministerin, „die Kontrollen haben sich verbessert.“ Dazu habe sich eine Bewegung gegen Massentierhaltung gebildet. Doch von Künasts Slogan „Klasse statt Masse“ ist bis heute in vielen deutschen Intensivmastbetrieben wenig zu sehen. Lebensmittelskandale kommen nach wie vor in beunruhigender Regelmäßigkeit ans Licht.
Lobby will Regeln zur BSE-Abwehr entschärfen
Rund zwei Milliarden Euro hat die BSE-Bekämpfung die deutsche Landwirtschaft gekostet. Der Bauernverband hat vergangenes Jahr gefordert, das Tiermehlverbot zu lockern; seine Mitglieder wollen zumindest Schweine und Geflügel wieder mit Abfällen und Nebenprodukten von Tierschlachtungen füttern. Auch die vorgeschriebenen BSE-Kontrollen für mindestens acht Jahre alte Rinder halten viele Lobbyisten für überflüssig; sie halten die Seuche für endgültig besiegt.
Ein Irrtum, hält Giese entgegen. „Wenn wir wieder Bedingungen wie in den Achtzigerjahren schaffen, können wir wieder so eine Epidemie kriegen.“ Gerade die Tiermehlverfütterung berge große Infektionsrisiken - etwa wenn Futter für Schweine und Rinder nicht sauber voneinander getrennt wird. Und dieses Jahr haben die Kontrolleure zweimal BSE entdeckt: bei alten Rindern, die allerdings eine andere Variante der Krankheit hatten.
Giese und seine Kollegen haben öffentliche Aufmerksamkeit bekommen und Forschungsgelder. Margrit Herbst indes kämpft bis heute um ihre Rehabilitierung. Sie ist mehrmals für Zivilcourage geehrt worden - unter anderem mit dem renommierten Whistleblower-Preis, der kürzlich auch Edward Snowden zugesprochen wurde. Einmal stand sie kurz davor, das Bundesverdienstkreuz zu bekommen. Aber als das Land Schleswig-Holstein forderte, sie müsse dafür auf Ansprüche gegen Land und Kreis verzichten, sagte sie sofort Nein.
Der Kreis Segeberg hat noch immer ein angespanntes Verhältnis zu der Tierärztin, die Deutschland vor einer verheerenden Seuche warnte. Anfang November hat der Kreistag mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP gegen das Votum von Grünen, Linken und Piraten abgelehnt, Herbst wegen ihrer Kündigung zu entschädigen.
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