Kernkraftwerke zu verschrotten kostet Milliarden. Stiehlt sich die Industrie aus ihrer Verantwortung? Von Claus Hecking und Petra Pinzler für DIE ZEIT, 3.9.2024
Aktualisierung: Wenige Tage nach Veröffentlichung des Artikels entschied Eon-Chef Johannes Teyssen, das Geschäft mit der Kernenergie doch nicht auf Uniper zu übertragen, sondern bei Eon zu behalten. Man beuge damit „Risiken für die Umsetzung unserer Konzernstrategie vor“, erklärte Teyssen. Eon und andere Energiekonzerne stehen nun erheblich unter Druck. Unter anderem sank die Eon-Aktie auf ein 20-Jahres-Tief, das Papier von RWE auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Bloomberg-Aufzeichnungen im Jahr 1992. Laut den im Artikel angesprochenen Gutachten von Warth Klein Grant Thornton fehlen den deutschen Versorgern bis zu 30 Milliarden Euro zur Deckung der Altlasten.
Berlin - Es gibt eine Geschichte, die haben in Berlin fast alle Politiker geglaubt. Sie handelt von einem Stromversorger, der sich neu erfindet. Der sein Geld nicht mehr mit Elektrizität aus gefährlichen Atomkraftwerken oder schmutzigen Kohlemeilern verdienen will, sondern auf umweltfreundliche Weise: mithilfe von Sonne und Wind. Sein Name ist E.on, Deutschlands führender Energiekonzern.
Inzwischen wird eine andere Version erzählt. Die handelt von demselben Unternehmen und denselben Chefs und lautet so: E.on wolle sich still und heimlich davonstehlen – und nicht mehr für die Milliarden Euro haften, die der Ausstieg aus der Kernkraft, der Abbau der Meiler und die Endlagerung der Abfälle noch kosten werden. Der Konzern werde vor allem deswegen rechtlich umgebaut und neu organisiert. Nachdem die Gewinne der Atomwirtschaft privatisiert wurden, sollen künftige Verluste so weit wie möglich auf die Gemeinschaft abgewälzt werden. Frei nach dem Motto: Man kann es ja mal versuchen.
Welche Variante ist plausibler? Fest steht: Zum 1. Januar 2016 wird sich E.on rechtlich aufteilen, das Geschäft mit seinen Atom-, Kohle-, Gas- und Wasserkraftwerken ausgliedern und in einer neuen Gesellschaft namens Uniper an die Börse bringen. E.on selbst hat dann mit der Kernkraft nichts mehr direkt zu tun. Für die Kosten, die durch die Stilllegung von AKWs entstehen, wird nach einer fünfjährigen Übergangsfrist nur noch die Tochter Uniper aufkommen müssen. Reicht Unipers Geld nicht, und das ist gut möglich, wird die Bundesrepublik, werden die Steuerzahler einspringen müssen. Es geht dabei um viele Milliarden Euro.
„Ich fürchte, dass E.on eine Bad Bank für seine Atomkraftwerke schafft, die vom Steuerzahler gerettet werden muss“, warnt Bärbel Höhn von den Grünen, Vorsitzende des Umweltausschusses des Bundestags. E.on bestreitet das entschieden. Das Unternehmen macht im Grunde nur nach, was der Wettbewerber Vattenfall schon 2012 vorgemacht hat. Damals strukturierte der schwedische Konzern sein Deutschlandgeschäft um – und löste nebenbei einen Beherrschungsvertrag zwischen der schwedischen Mutter- und der deutschen Tochtergesellschaft auf. De facto endet damit die Haftung der schwedischen Zentrale für die deutschen Atomlasten an der Grenze. Der Mutterkonzern habe sich „faktisch aus seiner Rolle als Mithaftender für die Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel zurückgezogen“, klagt Schleswig-Holsteins grüner Energieminister Robert Habeck.
Stahlkies-Schmirgeln gegen die Strahlung
Dass der Rückbau der Atomkraftwerke teuer wird, ist klar. Doch bis vor Kurzem wirkte die Angelegenheit vergleichsweise gut und sicher finanziert. Insgesamt 38,8 Milliarden Euro mussten die vier Kernkraftwerksbetreiber E.on, RWE, EnBW und Vattenfall für den Rückbau der AKWs und die Endlagerung radioaktiver Abfälle in den vergangenen Jahren zurückstellen. Das ist eine Menge Geld. Aber nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist es immer noch viel zu wenig. Mindestens 50 bis 70 Milliarden Euro seien nötig, um die tatsächlichen Kosten zu decken, folgern die DIW-Energieökonomen in einer Untersuchung. „Niemand kann zuverlässig vorhersagen, wie hoch die Kosten für Rückbau und Entsorgung werden“, sagt Christian von Hirschhausen, einer der Autoren der Studie. Aber schon heute sei „absehbar, dass die 38 Milliarden Euro nicht zur Deckung der Kosten ausreichen“. Andere Schätzungen – von der Hochschule Ruhr West, dem Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft und dem Bundesrechnungshof – kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Die bisherigen Rückstellungen sind zu gering.
Dekontamination einer Stahlarmatur, AKW Lubmin
In Lubmin nahe der Ostsee zeigt sich bereits heute, welch irrer Aufwand für den Abbau eines Kernkraftwerks betrieben werden muss. Ein Arbeiter zieht seinen dicken roten Schutzoverall zu, streift die feuerfesten Spezialhandschuhe und die Atemschutzmaske über, als wäre er ein Astronaut. Er geht in eine Kabine mit der Aufschrift „Vorsicht, Kontamination“ hinein und richtet sein Schmirgelgerät auf ein menschengroßes Stahlteil vor ihm: Wie ein Kärcher sieht der Apparat in seiner Hand aus, doch vorne aus der Düse schießt nicht Wasser, sondern Stahlkies. Es ist der Versuch, ein Armaturenelement des stillgelegten Kernkraftwerks Greifswald von radioaktiver Strahlung zu befreien.
Seit bald 20 Jahren räumen die Arbeiter der staatlichen Energiewerke Nord das frühere Vorzeigekraftwerk der DDR auf. Es ist ein Monsterprojekt: Allein die Maschinenhalle hinter dem Reaktorgebäude ist fast einen Kilometer lang. Rund 1,8 Millionen Tonnen Material müssen entsorgt werden. Am Ende sollen möglichst nicht mehr als 10.000 Tonnen davon ins Endlager wandern.
Das Endlager wird richtig teuer
Dafür trennen die Arbeiter Bauteile von der Größe eines Eisenbahnwaggons mit riesigen Bandsägen in handlichere Stücke. Sie trocknen radioaktive Reststoffe in Vakuumanlagen oder pressen sie zusammen – ehe sie versuchen, das Material mit Elektrolyse, Phosphorsäure oder Stahlkies zu dekontaminieren. Am Ende katalogisieren sie fast jedes der vielen Tausend Teile, packen das entseuchte Material in graue Kisten und prüfen es in einer Freimessanlage auf Reststrahlung, bevor es hinausdarf in die Außenwelt.
Chemische Dekontamination, AKW Lubmin
Ursprünglich sollten die Arbeiter schon im Jahr 2008 fertig werden, tatsächlich werden sie wohl noch mindestens ein Jahrzehnt lang zugange sein. Anstelle der veranschlagten 3,2 Milliarden Euro hat der Rückbau der fünf Reaktoren von Lubmin die Steuerzahler bereits 4,2 Milliarden Euro gekostet, und „der Finanzbedarf ist noch nicht abschließend durchdekliniert“, sagt Henry Cordes, der Vorstandschef der Energiewerke Nord. Substanzielle Kostenerhöhungen seien nicht auszuschließen.
Nicht nur die Erfahrungen in Lubmin zeigen: Die Folgekosten der Atomenergie sind höher als einst angenommen. Auch der Rückbau des Reaktors im britischen Nuklearkomplex Sellafield sei „bislang doppelt so teuer wie geplant“, sagt der DIW-Ökonom von Hirschhausen. Noch gar nicht kalkulierbar sind die Kosten für die Entsorgung der Abfälle, die noch obendrauf kommen. Schließlich hat die Bundesregierung trotz jahrelanger Suche noch immer kein Endlager gefunden.
Solche Unsicherheiten sind Gift für jede Unternehmensbilanz – und für den Aktienkurs allemal. Rein betriebswirtschaftlich gesehen macht es viel Sinn, solche finanziellen Risiken auszugliedern. E.on handelt also ganz im Sinne seiner Aktionäre, wenn der Konzern die neue Tochter und mit ihr alle Risiken ausgliedert. Nur: Eine Regierung kann so etwas nicht zulassen. Erst Vattenfall, dann E.on – wer kommt als Nächster? Immerhin sollen die Konzerne 17 Reaktorblöcke zurückbauen, die im Zuge der Energiewende abgeschaltet wurden oder werden. Hinzu kommen weitere fünf Kraftwerke, die vor Jahren außer Betrieb gingen.
„Wir müssen die Energieversorger am Leben halten“
Im Berliner Wirtschaftsministerium weiß man schon länger um die Brisanz der Lage und konnte doch zunächst nichts tun, obwohl Sigmar Gabriel vor der Sommerpause die Losung ausgegeben hatte: „Eltern haften für ihre Kinder.“ Ein neues Gesetz sollten Gabriels Beamte entwerfen, um die Konzerne daran zu hindern, sich heimlich davonzustehlen. Doch die Industrie hielt zunächst mit aller Macht dagegen.
Schmirgelmittel: Stahlkies im AKW Lubmin
Wochenlang versuchten E.on-Chef Johannes Teyssen und seine Lobbyisten, Gabriels Gesetzentwurf zu stoppen. Eine ganze Weile lang hatten sie damit sogar Erfolg. Auch im Kanzleramt sorgte man sich offenbar um das Wohl der Energiekonzerne und verhinderte die sogenannte Ressortabstimmung. Jedes Gesetz muss, bevor es zur Abstimmung ins Parlament geschickt wird, von anderen Ministerien geprüft werden.
Aber dann wurde es dem Wirtschaftsministerium zu brenzlig, es warnte vor den möglichen Folgekosten für die Staatskasse – und plötzlich gab es grünes Licht für das „Konzernnachhaftungsgesetz“ der Bundesregierung. Der Entwurf, welcher der ZEIT vorliegt, soll in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Er ist mit den anderen Ressorts abgestimmt, elf Seiten lang – und der entscheidende Satz steht gleich am Anfang, in Paragraf 1: „Für sämtliche (…) Zahlungsverpflichtungen eines Betreibers von (…) Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität (…) haften herrschende Unternehmen (…).“
Im Klartext heißt das tatsächlich: Eltern haften für ihre Kinder. E.on für Uniper, der schwedische Vattenfall-Mutterkonzern für seine deutsche Tochter.
Noch allerdings hat der Bundestag nicht zugestimmt – und das wird nicht einfach. Denn vor allem in der CDU und der CSU – und in der bayerischen Staatskanzlei – finden die Vertreter der Stromkonzerne viel Gehör, wenn sie warnen, dass ihre Unternehmen bankrottgehen könnten oder dass es Stromausfälle geben könnte. „Der Staat muss einspringen, sollten die Rückstellungen am Ende nicht reichen“, fordert etwa Marie-Luise Dött, umweltpolitische Sprecherin der Unions-Bundestagsfraktion. „Wir müssen die Energieversorger am Leben halten.“
Das hört man gerne in den Konzernzentralen – und hilft nach mit weiteren Argumenten. Etwa damit, dass man die Atomkraft ursprünglich gar nicht unbedingt gewollt habe. „Die Energiebranche ist von der Politik in die Kernenergie reingetrieben worden“, sagt etwa RWE-Chef Peter Terium. Also sei auch die Entsorgung „nicht nur und nicht allein unsere Verantwortung“. Und E.on-Chef Teyssen fragt: „Ist es richtig, dass derjenige für alle Ewigkeit haftet, der die Kernkraftwerke derzeit besitzt – oder derjenige, der sie gebaut hat?“ Tatsächlich hat der Staat einst den Kraftwerksbetreibern mit Billigkrediten den Atomeinstieg erleichtert und einige Meiler miterrichtet. Vornehm verschweigen die Bosse allerdings, dass sie jahrelang mit ebendiesen Kraftwerken viele Milliarden verdient haben.
Kommt der Staat überhaupt an die Rückstellungen heran?
Doch selbst wenn Gabriels Gesetz verabschiedet wird, könnte eine ganz andere Entwicklung massive Probleme aufwerfen: der Niedergang der großen Versorger. Alle vier kämpfen mit den Folgen der Energiewende und mit der Tatsache, dass sie den Einstieg ins Geschäft mit den erneuerbaren Energien lange verschlafen haben. Zeitgleich sind die Strompreise deutlich gefallen. Insofern sind alle Energiekonzerne heute viel weniger solvent als noch vor ein paar Jahren – und das könnte sich auch auf die Mittel für den Rückbau der AKWs auswirken. Anders formuliert: Ob und wie lange die 38,8 Milliarden, welche die Unternehmen bisher für die Aufräumarbeiten bereitstellen müssen, noch da sind, das weiß niemand. „Bei diesen Rückstellungen ist kein Bargeld hinterlegt, da gibt es kein Schatzkästchen, in das man reingreifen kann“, sagt Ökonom von Hirschhausen. Stattdessen ist das zurückgestellte Geld in Vermögensgegenständen wie Kraftwerken gebunden. Und deren Wert sinkt kontinuierlich.
Bis November soll eine Kommission für die Bundesregierung nach Wegen suchen, wie sich die Rückstellungsmilliarden der Konzerne sichern lassen. Wer diesem Gremium angehören wird, ist noch nicht klar. Und erst recht nicht, wie viel Geld überhaupt noch zu retten ist.
Um über Letzteres mehr Klarheit zu erhalten, lässt Gabriels Ministerium derzeit einen Stresstest machen: Ein Dutzend Experten der Düsseldorfer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Warth & Klein Grant Thornton durchleuchten die Betreiber, um herauszufinden, ob die überhaupt noch in der Lage sind, die Milliarden aufzubringen. Ob das Ministerium die Ergebnisse veröffentlicht, ist unklar. Groß ist nämlich die Sorge, dass dies den ein oder anderen Börsenkurs weiter nach unten treiben und damit den Wertverfall der Energieunternehmen noch beschleunigen könnte. (siehe Aktualisierung, d.Red.)
Immerhin gibt es ein neues Geschäftsfeld, das der angeschlagenen Branche etwas Profit verspricht: den Rückbau. Die Mitarbeiter von EnBW etwa haben beim Abbau der AKWs Obrigheim, Neckarwestheim I und Philippsburg I so viel Erfahrung gesammelt, dass der Konzern nun weltweit Beratungsdienstleistungen für den Abriss von Reaktoren anbietet.
Vielleicht haben Deutschlands Energiekonzerne doch noch eine Zukunft. Wenn schon nicht als Versorger, dann halt als Entsorger.